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László Majtényi: Abbau der rechtsstaatlichen Institutionen

analysis 2020-09-29 | Fb Sharing

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László Majtényi

Vorsitzender des Eötvös Károly Instituts für öffentliche Politik

 

 

Abbau der rechtsstaatlichen Institutionen

 

Der Fall Ungarn1)

 

Der Rechtsstaat und die autoritären Systeme

 

Aus dem kläglichen Schicksal des ungarischen Rechtsstaates kann eine Reihe von allgemeinen Lehren gezogen werden. Der Titel dieses Aufsatzes weist nicht auf einen Verfall, eine Art institutionelle Degeneration oder auf einen Untergang infolge eines organischen Prozesses hin, sondern bezeichnet eine mutwillig und bewusst ausgeführte, vorsätzliche Zerstörung. Zwar glaubt der Autor dieses Texts nicht, dass die Vernichtung des ungarischen Rechtsstaates anhand eines in allen Details vorgeplanten und dann Punkt für Punkt umgesetzten Masterplans vonstattengegangen sei – jedoch können wir, vom Endergebnis aus rückblickend, mit großer Gewissheit Folgendes behaupten: Selbst wenn es im Prozess auch Improvisiertes gab, handelt es sich hier um eine Kette von Vorgängen, die sich aus aufeinander aufbauenden, vorgeplanten Elementen als ein konzeptionell Ganzes zusammensetzt. Ausgangspunkt für diese Kette war eine für das politische Osteuropa in vieler Hinsicht mustergültige, funktionierende rechtsstaatliche Struktur in Ungarn; den Endpunkt aber bildet ein illiberaler Staat, der auf der Hegemonie der politischen Macht basiert, die Garantien der Gewaltenteilung abbaut und eine grundsätzlich personalisierte Autokratie anstrebt.

 

Man kann die Bedeutung des Rechtsstaates für unser Leben kaum hoch genug einschätzen: Theoretisch reicht seine Idee unmittelbar bis zur Aufklärung und noch weiter, ganz bis hin zu Aristoteles und zum hl. Augustinus, zurück. Die Rechtsstaatlichkeit bildet die verfassungsrechtliche Grundlage für die europäische Zivilisation, für das Funktionieren unseres Staates und auch für unseren Alltag.

 

Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union liest sich im Einklang mit dieser Bedeutung: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

 

Begrifflich ist der Rechtsstaat ziemlich weit gefasst: In der Regel verstehen wir darunter die Gewaltenteilung und in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung der Unabhängigkeit der Justiz, des Weiteren das System der demokratischen Kontrollen und Gegenkontrollen, die Achtung der Menschenwürde, die Freiheit, die Demokratie, die Gleichheit, die Wahrnehmung der Menschenrechte – also auch Elemente, von denen mehrere in Artikel 2 neben dem Begriff des Rechtsstaats auch einzeln genannt werden. Während es zwar über die Deutung des Verhältnisses zwischen Artikel 2 und Absatz 2 von Artikel 4 – in dem die Anerkennung und Achtung der verfassungsmäßigen Identität der Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebracht wird – Diskussionen gibt, ist es jedoch unbestritten, dass die Identität der Europäischen Union in den Grundwerten festgelegt wird. Es ist ferner unbestritten, dass die Rechtsstaatlichkeit im Rechtswesen der Europäischen Union die Einhaltung der Gesetze, die Rechtssicherheit, das Verbot der Willkür der Exekutive, die Unabhängigkeit der Justiz und die Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz beinhaltet.

 

Die Rechtsstaaten funktionieren in vieler Hinsicht auf unterschiedliche Weise; das bedeutet, dass sich die grundsätzliche Ähnlichkeit hinsichtlich der Institutionen und Rechtssysteme mit erheblichen Unterschieden manifestiert. Die wesentliche Übereinstimmung wird in der Durchsetzung der Grundwerte erkennbar: Weder Personen noch Institutionen dürfen in einem Rechtsstaat unbeschränkte Macht erlangen, für die Wahrung der Menschenrechte müssen institutionelle Garantien vorhanden sein, des Weiteren muss es freie und fair durchgeführte Wahlen geben. Das Gericht ist unabhängig, und die Presse ist frei.

 

Während es gewiss Rechtsstaaten von besserer und schwächerer Qualität gibt, kann man die Rechtsstaaten von den autoritären bzw. diktatorischen Systemen mit Gewissheit eindeutig abgrenzen. Das ist also immer eine Frage, die sich mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten lässt.

 

Die ungarische Demokratie war als Ergebnis der sogenannten rechtsstaatlichen Revolution von 1989/90 entstanden. Das dadurch entstandene Verfassungssystem entsprach der Struktur des unitären (nicht des föderalen) Staats und stützte sich verfassungsrechtlich – beispielsweise hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Dogmatik und der Persönlichkeitsrechte – in erster Linie auf die deutschen rechtsstaatlichen Traditionen. Bezüglich der Presse- und Informationsfreiheit befolgte sie auch die verfassungsrechtlichen Traditionen der Vereinigten Staaten: auf eine Weise, die lange Zeit für mehrere Länder Mittel-Osteuropas mustergültig erschien. Dem neu entstandenen und außerordentlich ambitionierten ungarischen Verfassungsgericht kam im System des Einkammerparlaments eine außergewöhnlich hohe öffentlich-rechtliche Verantwortung zu, die auch mit bedeutender Einflussmöglichkeit und Macht einherging. Als wichtigstes Vorbild diente hierfür das deutsche Bundesverfassungsgericht mit Sitz in Karlsruhe; jedoch verfügte das ungarische Verfassungsgericht – wegen des Einkammersystems und zudem angesichts der Umstände der politischen Wende – vielleicht über einen größeren Einfluss als sein Vorbild.

 

Aus Platzgründen kann der vorliegende Aufsatz diesen Prozess nicht in seiner vollen Komplexität darstellen; folglich ist das hier herangezogene Tatsachenmaterial – wenn auch keine Illustration – bei weitem nicht vollständig. Als ehemaliger Ombudsmann gehe ich zum Beispiel nicht ausführlich darauf ein, dass das System der unabhängigen, allgemeinen und spezialisierten Bürgerbeauftragten abgeschafft wurde, was zur Folge hatte, dass die für Minderheiten und für zukünftige Generationen zuständigen Bürgerbeauftragten zu Stellvertretern des Hauptombudsmannes heruntergestuft wurden. Statt der damaligen vier blieb also ein Ombudsmann übrig, der obendrein – unter Verletzung der Pariser Grundsätze – vom Parlament gewählt wird, ohne gesellschaftliche und gebietsbezogene Konsultation. Das Amt des Datenschutzbeauftragten wurde sogar abgeschafft – was laut einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union eine Verletzung des EU-Rechts darstellt – und durch ein öffentliches Verwaltungsorgan ersetzt.

 

Da die Struktur des Rechtsstaats von umfassendem Charakter ist, erstreckte sich auch seine Vernichtung im weitesten Sinne auf alle wesentlichen Elemente staatlichen Lebens (hierzu gehören z. B. die Kunst, die Wissenschaft, die Ausübung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit, die Bildung, aber auch das Familienleben). Das Programm zur Wiederherstellung der Verfassungsmäßigkeit soll also in Zukunft den Besonderheiten der Zerstörung angepasst werden, wobei dies die wichtigsten Aufbauelemente wären: eine auf den Grundsätzen von 1989/90 ruhende Verfassungsmäßigkeit, ein parlamentarisches System mit Einkammerparlament, freie und faire Wahlen, ein zeitgemäßer und umfassender Katalog von Grundrechten mit Priorität auf Freiheitsrechten, ein unabhängiges Verfassungsgericht – das befugt ist, jeden Rechtssatz zu überprüfen, und das mittels einer rechtlich geregelten Popularklage (popular action) von jedem Staatsbürger aufgesucht werden kann –, unabhängige Gerichte sowie freie Kontrollinstanzen – darunter selbstständige Bürgerbeauftragte (Ombudsmänner) mit allgemeinen Befugnissen für den Schutz der ethnischen Minderheiten und vor allem der Sinti und Roma, für den Schutz der Informationsrechte, für den Umweltschutz sowie für den Schutz der Rechte zukünftiger Generationen. Auf die Ära des Systems der Nationalen Zusammenarbeit (auf Ungarisch: Nemzeti Együttműködés Rendszere, Abkürzung: NER) könnte eine Phase folgen, die aufgrund ihres Grundcharakters eine wiederherstellende Verfassungsgebung darstellt. Diese weicht von der Verfassung der rechtsstaatlichen Revolution nur dort ab, wo dies durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden kann.

 

 

Wie wurde der Rechtsstaat zersetzt? – Das Schicksal des Verfassungsgerichts

 

Die Demütigung des Verfassungsgerichts und die Unmöglichmachung seiner Arbeit nahmen sofort nach den Wahlen von 2010 ihren Anfang.

Es begann nicht einmal mit einer der wichtigsten Angelegenheiten, sondern damit, dass auf die Abfindung der im öffentlichen Sektor Beschäftigten rückwirkend eine Sondersteuer von 98 % (!) erhoben wurde – ungeachtet des Prinzips, dass kein Gesetz für den Zeitraum vor seiner Verkündung für Rechtspersonen nachteilige Regelungen anordnen darf. Demzufolge wurde die Regelung über die Sondersteuer vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt. Als Reaktion darauf hat man nicht die Verfassungswidrigkeit korrigiert, sondern eine Verfassungsänderung vorgenommen, die die Befugnis des Verfassungsgerichts einschränkt, Haushalts- und Steuergesetze auf Verfassungskonformität zu überprüfen. Damit aber hat die Unteilbarkeit der Verfassungsmäßigkeit aufgehört zu existieren, da das Verfassungsgericht von diesem Zeitpunkt an nicht mehr in der Lage war, einzelne Verfassungswidrigkeiten zu untersuchen. Somit hat die Verfassung selbst (und später das Grundgesetz) ausdrücklich zur verfassungswidrigen Gesetzgebung eingeladen. Von einem funktionierenden Verfassungsgericht kann aber nur dann die Rede sein, wenn ein unabhängiges Gericht befugt ist, alle Gesetze von der Ganzheit der Verfassung her zu überprüfen und dabei – auch über ihre Nichtigkeit – verbindliche Entscheidungen zu treffen.

Die Begründung für diesen ersten Schritt in Richtung Abbau des Rechtsstaates ist typisch und verrät zugleich viel: Als Grund für die Einschränkung der Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichts wird im Vorschlag angegeben, dass „die Gründe für eine so breit angelegte Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichts aufgrund der bereits erfolgten Verfestigung des Rechtsstaates nun nicht mehr bestehen“. Weder der Staatspräsident noch das Verfassungsgericht leisteten dagegen Widerstand, und ab hier gab es dann auch keinen Halt mehr nach unten. Man wagte sich später noch weiter auf diesem Pfad vor: So wurden mit der vierten Änderung des Grundgesetzes sämtliche Beschlüsse des Verfassungsgerichts außer Kraft gesetzt, die während zwei Jahrzehnten getroffen worden waren, und die Möglichkeit einer Überprüfung der gegen die Verfassungsmäßigkeit verstoßenden Grundgesetzänderungen durch das Verfassungsgericht wurde ebenfalls ausgeschlossen. Ab diesem Punkt entstand die bis heute anhaltende Situation, dass nämlich ins Grundgesetz aufgenommen werden kann, was immer man auch will – und was immer man auch will, kann verfassungskonform gemacht werden.

 

Kehren wir nun zurück zu den Anfängen der Zerstörung! Bereits die Verfassungsänderung vom Sommer 2010 nahm eine Änderung in der Zusammensetzung des parlamentarischen Ausschusses vor, der für die Nominierung der Richter für das Verfassungsgericht zuständig war: Während früher jede Fraktion je einen Abgeordneten in den Nominierungsausschuss entsandte – wodurch die Parteien immerhin zum Kooperieren gezwungen wurden –, richteten sich die Quoten nun nach den Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Die mit einer Zweidrittelmehrheit ausgestatteten Regierungsparteien konnten auf diese Weise selbst die Kandidaten für das Amt eines Verfassungsrichters benennen und diese dann mit genau derselben Mehrheit auch alleine wählen. Solange die vom System der Nationalen Zusammenarbeit (NER) ernannten Richter noch keine Mehrheit innerhalb des Verfassungsgerichts erlangt hatten, gab es Versuche, die verfassungswidrige Rechtsprechung zu bändigen. Jedoch war dies eher wenig erfolgreich, da die Urteile des Verfassungsgerichts sogar mittels Verfassungsänderungen umgangen wurden. Die vierte Änderung des Grundgesetzes enthält z. B. mehrere durch das Verfassungsgericht als teilweise oder gänzlich verfassungswidrig eingestufte und für nichtig erklärte Verordnungen – etwa die eingeschränkte Auslegung des Familienbegriffs oder die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit.

 

Im Juli 2011 stockte das Parlament die Mitgliederzahl des Verfassungsgerichts von elf auf 15 Personen auf, und im auf diese Weise erweiterten Gremium gab es acht Verfassungsrichter – also die Mehrheit –, die in einem Verfahren praktisch ohne Mitsprache der Opposition ins Amt gewählt wurden. Das 15-köpfige Verfassungsgericht nahm seine Arbeit am 1. September 2011 auf und bestand aus zehn von der Regierungskoalition nominierten Mitgliedern sowie weiteren vier, die früher durch die Oppositionsparteien nominiert worden waren, und einem seinerzeit konsensual nominierten Mitglied. Weiter gestärkt wurde die Position der Regierungsparteien durch eine Gesetzesänderung, die besagt, dass das Mandat der bereits gewählten Verfassungsrichter mit Vollendung des siebzigsten Lebensjahres nicht aufgehoben wird, sondern dass diese Richter – über mehrere parlamentarische Zyklen hinweg – im Amt bleiben, solange sie die – nun auch erhöhte – Mandatsdauer von zwölf Jahren nicht voll ausgeschöpft haben. Die Einflussmöglichkeit der Regierung wurde auch dadurch gesteigert, dass der Präsident des Verfassungsgerichts in diesem neuen System vom Parlament gewählt wird, und nicht wie früher von den Verfassungsrichtern selbst.

 

Die Richter, die ihre Wahl ausschließlich dem Vertrauen der Regierungsmehrheit zu verdanken hatten, bedienten grundsätzlich deren politische Interessen, es gab aber zugleich auch einige wenige unter ihnen, die – wenn auch mit schwankender Entschlossenheit und Häufigkeit – hin und wieder einen Hauch von Autonomie spüren ließen, indem sie versuchten, ein Minimum an Verfassungsmäßigkeit zu bewahren, und dies mit ihrer Stimmabgabe und mit der Äußerung von Sondermeinungen zum Ausdruck brachten. Sie bildeten aber normalerweise die Minderheit.

 

Ich kann in diesem Rahmen die unrühmliche Arbeit des Verfassungsgerichts der vergangenen zehn Jahre nicht bis zum Ende verfolgen. Wohin aber diese Art von „Dienst an Machtinteressen“ führt, kann am trefflichsten mit einer nicht unmittelbar politischen Entscheidung illustriert werden: Im Zuge der siebten Änderung des Grundgesetzes im Jahre 2018 wurde das Leben obdachloser Menschen im öffentlichen Raum auf Verfassungsebene generell verboten. Darauf basierend hat das Parlament im Oktober 2018 den – in der Regel nicht selbstgewählten, sondern schicksalhaft entstandenen – Zustand der Obdachlosigkeit zur Ordnungswidrigkeit erklärt, und dies wurde 2019 vom Verfassungsgericht – zugegebenermaßen bei fünf Sondermeinungen – mit einer scheinheiligen Begründung, die überdies fernab jeglicher sozialer Wirklichkeit ist, als verfassungskonform eingestuft: „Gemäß dem im Grundgesetz niedergelegten Wertesystem hat kein Mensch das Recht auf Mittellosigkeit und auf Obdachlosigkeit. Dieser Zustand ist nicht Bestandteil des Rechts auf Menschenwürde.“

 

So weit hat sich die Mehrheit der ungarischen Verfassungsrichter von der einst mutigen und radikalen Vertretung der moralisch begründeten Grundrechte entfernt.

 

 

Das neue Grundgesetz Ungarns

 

Verfassungen haben die Funktion, als „Fassung“ für die gemeinsamen Werte eines gegebenen Landes zu dienen. Die Verfassung muss auf einem denkbar breiten Konsens hinsichtlich der eigenen Grundwerte einer politischen Gemeinschaft basieren. Hierfür ist es unabdingbar, dass sich die politisch rechts und links angesiedelten Parteien gleichermaßen am Prozess der Verfassungsgebung beteiligen, und dass hierbei auch die Gesellschaft mit einbezogen wird. Ein weiterer wichtiger Grundwert der Verfassungen ist die Stabilität. Während der anderthalb Jahre, die der Außerkraftsetzung der vorherigen Verfassung vorausgingen, hat die seit 2010 amtierende Regierung zwölf (!) Verfassungsänderungen vorgenommen, und das danach verabschiedete Grundgesetz wurde bisher siebenmal modifiziert.

 

Das Grundgesetz aber wurde als eine Art Einparteienverfassung verabschiedet, unter ausschließlicher Mitwirkung der Regierungsparteien. Zwischen der Veröffentlichung und der Verabschiedung des Texts verging kaum ein Monat (!), und das verfassungsgebende Parlament hatte insgesamt neun Sitzungstage für die Beratung über den Text veranschlagt. Ein Referendum darüber fand nicht statt, obwohl dies ebenfalls begründet gewesen wäre. (Stattdessen erhielten die Staatsbürger von der Regierung im Februar 2011 im Rahmen einer gesetzlich nicht geregelten sogenannten „nationalen Konsultation“ ein aus zwölf das Grundgesetz betreffenden Fragen bestehendes Paket mit dem Titel „Fragen zur neuen Verfassung“. Es wurden insgesamt 8.093.000 Fragebögen an die Bevölkerung verschickt, 11,3 % davon wurden von den Wahlbürgern ausgefüllt.)

 

Das Grundgesetz trat am 1. Januar 2012 in Kraft; es handelt sich um einen im 21. Jahrhundert verfassten Text, der ideologisch geprägt und mit kollektivistischen Zügen belastet ist. Er wird von einem weitschweifigen „Nationalen Bekenntnis“ eingeleitet, das der Verfassungsmäßigkeit schon von vornherein entgegenläuft, und nimmt gewisse „Errungenschaften der historischen Verfassung“ vollkommen unklaren Inhalts mit in das Grundgesetz auf. Dieses Grundgesetz vermag es kaum, von der Ganzheit der Gesellschaft – die ja aus Gruppen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung sowie verschiedener politischer Überzeugung besteht – akzeptiert werden zu können. Im Gegensatz zur vorherigen Verfassung benennt dieses Grundgesetz anstelle des Volkes die Nation als Rechtssubjekt des Verfassungsprozesses und verkündet anstelle der früheren weltanschaulichen Neutralität die christlich-nationale Identität. Dies wird im Nationalen Bekenntnis ausführlich dargestellt, und somit ist diese Einleitung mehr als eine umfangreiche Präambel, da sie normativen Inhalts ist: Die Auslegung des Grundgesetzes mit den darin enthaltenen Grundrechten hat im Einklang mit dem Nationalen Bekenntnis zu erfolgen.

 

Während in der früheren Verfassung die Wahrung und der Schutz der Grundrechte als die allem übergeordnete Verpflichtung des Staates geregelt waren, fehlt im Grundgesetz der Hinweis auf die Verpflichtung des Staates, und es wird nur allgemein darauf hingewiesen, dass die Grundrechte „geachtet werden müssen“. Der kollektivistischen Anschauung entsprechend wird der Kreis der Bürgerpflichten erweitert: Jeder ist „verpflichtet, bei der Wahrnehmung der staatlichen und gemeinschaftlichen Aufgaben seinen Beitrag zu leisten“, und laut Grundgesetz gilt für jeden die Pflicht zur Arbeit: „Jeder ist verpflichtet, mit einer entsprechend seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten verrichteten Arbeit zum Wohlstand der Gemeinschaft beizutragen“.

 

Auch die auf internationalen Foren kritisierte lebenslange Haft ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung wurde im Grundgesetz auf Verfassungsebene gehoben. Entgegen den internationalen Tendenzen wurde der Begriff der Heirat und der der Familie aus ideologischen Gründen eingeschränkt, beispielsweise durch die begriffliche Ausgrenzung der die Enkel erziehenden Großeltern aus der Familie. Durch die Bestimmung über den Schutz des Lebens des Embryos von der Empfängnis an wurde zwar die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nicht unmittelbar verschärft, es wurde dadurch aber eine verfassungskonforme Möglichkeit zur strengeren Einschränkung der Selbstbestimmungsrechte der Frauen eröffnet. Während früher die soziale Sicherheit ein persönliches Recht darstellte, wurde sie im Grundgesetz in ein staatliches Ziel umgewandelt; somit kann man soziale Maßnahmen auch „angepasst an die für die Gemeinschaft nützliche Tätigkeit“ des Einzelnen festlegen.

 

Das Parlament hatte 2008 den Finanzrat mit der Aufgabe ins Leben gerufen, über eine disziplinierte, transparente und langfristig nachhaltige Haushaltspolitik zu wachen. Die Mitglieder des sowohl von der Regierung als auch vom Parlament unabhängigen Finanzrates wurden für neun Jahre gewählt. Bis 2011 hat die Regierungsmehrheit das Budget des Finanzrates auf ein 83stel (!) der vorherigen Summe, von 835,5 Millionen auf 10 Millionen Forint einschrumpfen lassen und somit seine sachbezogene Arbeit verunmöglicht. Den auf diese Weise für die Wahrnehmung seiner ursprünglichen Aufgabe ungeeignet gewordenen Finanzrat hat dann das Grundgesetz mit einer Macht ausgestattet, die ausreichen würde, um die Regierung zu Fall zu bringen: Nach den auch im Grundgesetz niedergelegten neuen Regeln sind der Präsident der Ungarischen Nationalbank sowie der Präsident des Staatlichen Rechnungshofes Mitglieder des Finanzrates, und sein Vorsitzender wird vom Staatspräsidenten ernannt. Überall sonst wird der Staatshaushalt normalerweise vom Parlament verabschiedet, jedoch wird im Grundgesetz dieses Recht zukünftiger Parlamente entgegen dem Grundsatz der Volkssouveränität eingeschränkt, indem es das Inkrafttreten des Haushalts vom Einverständnis des auch über die Parlamentswahlen hinaus amtierenden dreiköpfigen Finanzrates abhängig macht. Die Nichterteilung dieses Einverständnisses kann zur Auflösung des Parlaments führen.

 

 

Aussichten des autoritären Systems

 

Indem es den Rechtsstaat abbaut, betrachtet das autoritäre System nicht einzelne Elemente des Rechtsstaates als ihren Gegner, sondern alle. Denn es vertritt – sogar entgegen dem Text seiner eigenen Verfassung – die Einheit der Macht und strebt bei Verkündung eines falschen Kollektivismus nach persönlicher Macht, wodurch ihm jede Art von organisatorischer oder persönlicher Autonomie als Feind erscheint. Das autoritäre System unternimmt den Versuch, jede rechtsstaatliche Institution auszuhöhlen und beinahe sämtliche rechtlichen und organisatorischen Garantien abzubauen, sie inhaltlich zu entleeren. Stößt es auf internationalen und/oder gesellschaftlichen Widerstand, so sucht es nach Möglichkeiten, dasselbe auf Umwegen zu erreichen. Der Rechtsstaat ist dem Anschein nach schutzlos und verletzlich, während autoritäre Systeme gefestigt zu sein scheinen. Diese Einschätzung aber kann weder durch Analyse noch durch historische Erfahrung bestätigt werden. Der Rechtsstaat ist vielfältig und verändert sich ständig in Anpassung an die gesellschaftlichen Veränderungen. Die scheinbare Stabilität der autoritären Systeme ist oft ein Zeichen mangelnder Anpassungsfähigkeit; sie neigen also dazu, in Bewegungsunfähigkeit zu erstarren. So stürzen sie oft unerwartet – in historischem Maßstab innerhalb von Sekunden – in sich zusammen.

 

***

 

Dieser Text befasst sich in Grundzügen mit dem Schicksal der beiden wichtigsten Elemente des ungarischen Rechtsstaats – des Verfassungsgerichts und der Verfassungsgesetze –, ist aber auf die bisher sieben Änderungen des Grundgesetzes kaum eingegangen. Eine Reihe von Grundproblemen habe ich ebenfalls nicht erwähnt: So konnten die Unabhängigkeit der Richter, die Pressefreiheit, die freien Wahlen, die Gewissens- und Religionsfreiheit, die Situation der Kirchen, das Selbstbestimmungsrecht, die Freiheit der Wissenschaft, der Kultur und der Künste, das Recht auf freien Unterricht und die Autonomie der Universitäten, die Rechte der Sinti und Roma und der sexuellen Minderheiten sowie das Flüchtlingswesen in diesem Aufsatz aus Platzgründen nicht Gegenstand einer Betrachtung werden. Ich werde diese Themen – wenn vielleicht auch nicht alle – in einem folgenden, auf die Lage der Staatsbürger fokussierenden Essay erörtern.

 

1) Beim Verfassen dieses Aufsatzes stützte ich mich auf folgende, in der Redaktion des Eötvös Károly Instituts entstandene Publikation: László Majtényi, Virág Zsugyó (Red.), Harcz az alkotmányért (Kampf für die Verfassung), Budapest (Kalligram) 2019, 288 Seiten

 

 

Deutsche Übersetzung: Lutz Heis

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