László Majtényi
Vorsitzender des Eötvös Károly Instituts
für öffentliche Politik
Abbau der rechtsstaatlichen Institutionen
Der Fall Ungarn1)
Der Rechtsstaat und die autoritären Systeme
Aus dem kläglichen Schicksal des ungarischen
Rechtsstaates kann eine Reihe von allgemeinen Lehren gezogen werden. Der Titel
dieses Aufsatzes weist nicht auf einen Verfall, eine Art institutionelle
Degeneration oder auf einen Untergang infolge eines organischen Prozesses hin,
sondern bezeichnet eine mutwillig und bewusst ausgeführte, vorsätzliche
Zerstörung. Zwar glaubt der Autor dieses Texts nicht, dass die Vernichtung des
ungarischen Rechtsstaates anhand eines in allen Details vorgeplanten und dann
Punkt für Punkt umgesetzten Masterplans vonstattengegangen sei – jedoch können
wir, vom Endergebnis aus rückblickend, mit großer Gewissheit Folgendes
behaupten: Selbst wenn es im Prozess auch Improvisiertes gab, handelt es sich
hier um eine Kette von Vorgängen, die sich aus aufeinander aufbauenden,
vorgeplanten Elementen als ein konzeptionell Ganzes zusammensetzt.
Ausgangspunkt für diese Kette war eine für das politische Osteuropa in vieler
Hinsicht mustergültige, funktionierende rechtsstaatliche Struktur in Ungarn;
den Endpunkt aber bildet ein illiberaler Staat, der auf der Hegemonie der
politischen Macht basiert, die Garantien der Gewaltenteilung abbaut und eine
grundsätzlich personalisierte Autokratie anstrebt.
Man kann die Bedeutung des Rechtsstaates für
unser Leben kaum hoch genug einschätzen: Theoretisch reicht seine Idee
unmittelbar bis zur Aufklärung und noch weiter, ganz bis hin zu Aristoteles und
zum hl. Augustinus, zurück. Die Rechtsstaatlichkeit bildet die
verfassungsrechtliche Grundlage für die europäische Zivilisation, für das
Funktionieren unseres Staates und auch für unseren Alltag.
Artikel 2 des Vertrages über die Europäische
Union liest sich im Einklang mit dieser Bedeutung: „Die Werte, auf die sich die
Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie,
Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte
einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte
sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch
Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die
Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Begrifflich ist der Rechtsstaat ziemlich weit
gefasst: In der Regel verstehen wir darunter die Gewaltenteilung und in diesem
Zusammenhang die besondere Bedeutung der Unabhängigkeit der Justiz, des
Weiteren das System der demokratischen Kontrollen und Gegenkontrollen, die
Achtung der Menschenwürde, die Freiheit, die Demokratie, die Gleichheit, die
Wahrnehmung der Menschenrechte – also auch Elemente, von denen mehrere in
Artikel 2 neben dem Begriff des Rechtsstaats auch einzeln genannt werden.
Während es zwar über die Deutung des Verhältnisses zwischen Artikel 2 und
Absatz 2 von Artikel 4 – in dem die Anerkennung und Achtung der
verfassungsmäßigen Identität der Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebracht wird –
Diskussionen gibt, ist es jedoch unbestritten, dass die Identität der
Europäischen Union in den Grundwerten festgelegt wird. Es ist ferner
unbestritten, dass die Rechtsstaatlichkeit im Rechtswesen der Europäischen
Union die Einhaltung der Gesetze, die Rechtssicherheit, das Verbot der Willkür
der Exekutive, die Unabhängigkeit der Justiz und die Forderung nach Gleichheit
vor dem Gesetz beinhaltet.
Die Rechtsstaaten funktionieren in vieler
Hinsicht auf unterschiedliche Weise; das bedeutet, dass sich die grundsätzliche
Ähnlichkeit hinsichtlich der Institutionen und Rechtssysteme mit erheblichen
Unterschieden manifestiert. Die wesentliche Übereinstimmung wird in der
Durchsetzung der Grundwerte erkennbar: Weder Personen noch Institutionen dürfen
in einem Rechtsstaat unbeschränkte Macht erlangen, für die Wahrung der
Menschenrechte müssen institutionelle Garantien vorhanden sein, des Weiteren
muss es freie und fair durchgeführte Wahlen geben. Das Gericht ist unabhängig,
und die Presse ist frei.
Während es gewiss Rechtsstaaten von besserer
und schwächerer Qualität gibt, kann man die Rechtsstaaten von den autoritären
bzw. diktatorischen Systemen mit Gewissheit eindeutig abgrenzen. Das ist also
immer eine Frage, die sich mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten lässt.
Die ungarische Demokratie war als Ergebnis der
sogenannten rechtsstaatlichen Revolution von 1989/90 entstanden. Das
dadurch entstandene Verfassungssystem entsprach der Struktur des unitären
(nicht des föderalen) Staats und stützte sich verfassungsrechtlich –
beispielsweise hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Dogmatik und der
Persönlichkeitsrechte – in erster Linie auf die deutschen rechtsstaatlichen
Traditionen. Bezüglich der Presse- und Informationsfreiheit befolgte sie auch
die verfassungsrechtlichen Traditionen der Vereinigten Staaten: auf eine Weise,
die lange Zeit für mehrere Länder Mittel-Osteuropas mustergültig erschien. Dem
neu entstandenen und außerordentlich ambitionierten ungarischen
Verfassungsgericht kam im System des Einkammerparlaments eine außergewöhnlich
hohe öffentlich-rechtliche Verantwortung zu, die auch mit bedeutender
Einflussmöglichkeit und Macht einherging. Als wichtigstes Vorbild diente
hierfür das deutsche Bundesverfassungsgericht mit Sitz in Karlsruhe; jedoch
verfügte das ungarische Verfassungsgericht – wegen des Einkammersystems und
zudem angesichts der Umstände der politischen Wende – vielleicht über einen
größeren Einfluss als sein Vorbild.
Aus Platzgründen kann der vorliegende Aufsatz
diesen Prozess nicht in seiner vollen Komplexität darstellen; folglich ist das
hier herangezogene Tatsachenmaterial – wenn auch keine Illustration – bei
weitem nicht vollständig. Als ehemaliger Ombudsmann gehe ich zum Beispiel nicht
ausführlich darauf ein, dass das System der unabhängigen, allgemeinen und
spezialisierten Bürgerbeauftragten abgeschafft wurde, was zur Folge hatte, dass
die für Minderheiten und für zukünftige Generationen zuständigen
Bürgerbeauftragten zu Stellvertretern des Hauptombudsmannes heruntergestuft
wurden. Statt der damaligen vier blieb also ein Ombudsmann übrig, der obendrein
– unter Verletzung der Pariser Grundsätze – vom Parlament gewählt wird, ohne
gesellschaftliche und gebietsbezogene Konsultation. Das Amt des
Datenschutzbeauftragten wurde sogar abgeschafft – was laut einem Urteil des
Gerichtshofs der Europäischen Union eine Verletzung des EU-Rechts darstellt –
und durch ein öffentliches Verwaltungsorgan ersetzt.
Da die Struktur des Rechtsstaats von
umfassendem Charakter ist, erstreckte sich auch seine Vernichtung im weitesten
Sinne auf alle wesentlichen Elemente staatlichen Lebens (hierzu gehören z. B.
die Kunst, die Wissenschaft, die Ausübung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit,
die Bildung, aber auch das Familienleben). Das Programm zur Wiederherstellung
der Verfassungsmäßigkeit soll also in Zukunft den Besonderheiten der Zerstörung
angepasst werden, wobei dies die wichtigsten Aufbauelemente wären: eine auf den
Grundsätzen von 1989/90 ruhende Verfassungsmäßigkeit, ein parlamentarisches
System mit Einkammerparlament, freie und faire Wahlen, ein zeitgemäßer und
umfassender Katalog von Grundrechten mit Priorität auf Freiheitsrechten, ein
unabhängiges Verfassungsgericht – das befugt ist, jeden Rechtssatz zu
überprüfen, und das mittels einer rechtlich geregelten Popularklage (popular
action) von jedem Staatsbürger aufgesucht werden kann –, unabhängige Gerichte
sowie freie Kontrollinstanzen – darunter selbstständige Bürgerbeauftragte
(Ombudsmänner) mit allgemeinen Befugnissen für den Schutz der ethnischen
Minderheiten und vor allem der Sinti und Roma, für den Schutz der
Informationsrechte, für den Umweltschutz sowie für den Schutz der Rechte
zukünftiger Generationen. Auf die Ära des Systems der Nationalen Zusammenarbeit
(auf Ungarisch: Nemzeti Együttműködés Rendszere, Abkürzung: NER) könnte eine
Phase folgen, die aufgrund ihres Grundcharakters eine wiederherstellende
Verfassungsgebung darstellt. Diese weicht von der Verfassung der
rechtsstaatlichen Revolution nur dort ab, wo dies durch zwingende Gründe
gerechtfertigt werden kann.
Wie wurde der Rechtsstaat zersetzt? – Das
Schicksal des Verfassungsgerichts
Die Demütigung des Verfassungsgerichts und die
Unmöglichmachung seiner Arbeit nahmen sofort nach den Wahlen von 2010 ihren
Anfang.
Es begann nicht einmal mit einer der wichtigsten
Angelegenheiten, sondern damit, dass auf die Abfindung der im öffentlichen
Sektor Beschäftigten rückwirkend eine Sondersteuer von 98 % (!) erhoben wurde –
ungeachtet des Prinzips, dass kein Gesetz für den Zeitraum vor seiner
Verkündung für Rechtspersonen nachteilige Regelungen anordnen darf. Demzufolge
wurde die Regelung über die Sondersteuer vom Verfassungsgericht für nichtig
erklärt. Als Reaktion darauf hat man nicht die Verfassungswidrigkeit
korrigiert, sondern eine Verfassungsänderung vorgenommen, die die Befugnis des
Verfassungsgerichts einschränkt, Haushalts- und Steuergesetze auf
Verfassungskonformität zu überprüfen. Damit aber hat die Unteilbarkeit der
Verfassungsmäßigkeit aufgehört zu existieren, da das Verfassungsgericht von
diesem Zeitpunkt an nicht mehr in der Lage war, einzelne
Verfassungswidrigkeiten zu untersuchen. Somit hat die Verfassung selbst (und
später das Grundgesetz) ausdrücklich zur verfassungswidrigen Gesetzgebung
eingeladen. Von einem funktionierenden Verfassungsgericht kann aber nur dann
die Rede sein, wenn ein unabhängiges Gericht befugt ist, alle Gesetze von der
Ganzheit der Verfassung her zu überprüfen und dabei – auch über ihre
Nichtigkeit – verbindliche Entscheidungen zu treffen.
Die Begründung für diesen ersten Schritt in
Richtung Abbau des Rechtsstaates ist typisch und verrät zugleich viel: Als
Grund für die Einschränkung der Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichts wird im
Vorschlag angegeben, dass „die Gründe für eine so breit angelegte
Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichts aufgrund der bereits erfolgten
Verfestigung des Rechtsstaates nun nicht mehr bestehen“. Weder der
Staatspräsident noch das Verfassungsgericht leisteten dagegen Widerstand, und
ab hier gab es dann auch keinen Halt mehr nach unten. Man wagte sich später
noch weiter auf diesem Pfad vor: So wurden mit der vierten Änderung des
Grundgesetzes sämtliche Beschlüsse des Verfassungsgerichts außer Kraft gesetzt,
die während zwei Jahrzehnten getroffen worden waren, und die Möglichkeit einer
Überprüfung der gegen die Verfassungsmäßigkeit verstoßenden
Grundgesetzänderungen durch das Verfassungsgericht wurde ebenfalls
ausgeschlossen. Ab diesem Punkt entstand die bis heute anhaltende Situation,
dass nämlich ins Grundgesetz aufgenommen werden kann, was immer man auch will –
und was immer man auch will, kann verfassungskonform gemacht werden.
Kehren wir nun zurück zu den Anfängen der
Zerstörung! Bereits die Verfassungsänderung vom Sommer 2010 nahm eine Änderung
in der Zusammensetzung des parlamentarischen Ausschusses vor, der für die
Nominierung der Richter für das Verfassungsgericht zuständig war: Während
früher jede Fraktion je einen Abgeordneten in den Nominierungsausschuss
entsandte – wodurch die Parteien immerhin zum Kooperieren gezwungen wurden –,
richteten sich die Quoten nun nach den Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Die
mit einer Zweidrittelmehrheit ausgestatteten Regierungsparteien konnten auf
diese Weise selbst die Kandidaten für das Amt eines Verfassungsrichters
benennen und diese dann mit genau derselben Mehrheit auch alleine wählen.
Solange die vom System der Nationalen Zusammenarbeit (NER) ernannten Richter
noch keine Mehrheit innerhalb des Verfassungsgerichts erlangt hatten, gab es
Versuche, die verfassungswidrige Rechtsprechung zu bändigen. Jedoch war dies
eher wenig erfolgreich, da die Urteile des Verfassungsgerichts sogar mittels
Verfassungsänderungen umgangen wurden. Die vierte Änderung des Grundgesetzes
enthält z. B. mehrere durch das Verfassungsgericht als teilweise oder gänzlich
verfassungswidrig eingestufte und für nichtig erklärte Verordnungen – etwa die
eingeschränkte Auslegung des Familienbegriffs oder die Kriminalisierung von
Obdachlosigkeit.
Im Juli 2011 stockte das Parlament die
Mitgliederzahl des Verfassungsgerichts von elf auf 15 Personen auf, und im auf
diese Weise erweiterten Gremium gab es acht Verfassungsrichter – also die
Mehrheit –, die in einem Verfahren praktisch ohne Mitsprache der Opposition ins
Amt gewählt wurden. Das 15-köpfige Verfassungsgericht nahm seine Arbeit am 1. September
2011 auf und bestand aus zehn von der Regierungskoalition nominierten
Mitgliedern sowie weiteren vier, die früher durch die Oppositionsparteien
nominiert worden waren, und einem seinerzeit konsensual nominierten Mitglied.
Weiter gestärkt wurde die Position der Regierungsparteien durch eine
Gesetzesänderung, die besagt, dass das Mandat der bereits gewählten
Verfassungsrichter mit Vollendung des siebzigsten Lebensjahres nicht aufgehoben
wird, sondern dass diese Richter – über mehrere parlamentarische Zyklen hinweg
– im Amt bleiben, solange sie die – nun auch erhöhte – Mandatsdauer von zwölf
Jahren nicht voll ausgeschöpft haben. Die Einflussmöglichkeit der Regierung
wurde auch dadurch gesteigert, dass der Präsident des Verfassungsgerichts in
diesem neuen System vom Parlament gewählt wird, und nicht wie früher von den
Verfassungsrichtern selbst.
Die Richter, die ihre Wahl ausschließlich dem
Vertrauen der Regierungsmehrheit zu verdanken hatten, bedienten grundsätzlich
deren politische Interessen, es gab aber zugleich auch einige wenige unter
ihnen, die – wenn auch mit schwankender Entschlossenheit und Häufigkeit – hin
und wieder einen Hauch von Autonomie spüren ließen, indem sie versuchten, ein
Minimum an Verfassungsmäßigkeit zu bewahren, und dies mit ihrer Stimmabgabe und
mit der Äußerung von Sondermeinungen zum Ausdruck brachten. Sie bildeten aber
normalerweise die Minderheit.
Ich kann in diesem Rahmen die unrühmliche
Arbeit des Verfassungsgerichts der vergangenen zehn Jahre nicht bis zum Ende
verfolgen. Wohin aber diese Art von „Dienst an Machtinteressen“ führt, kann am
trefflichsten mit einer nicht unmittelbar politischen Entscheidung illustriert
werden: Im Zuge der siebten Änderung des Grundgesetzes im Jahre 2018 wurde das
Leben obdachloser Menschen im öffentlichen Raum auf Verfassungsebene generell
verboten. Darauf basierend hat das Parlament im Oktober 2018 den – in der Regel
nicht selbstgewählten, sondern schicksalhaft entstandenen – Zustand der
Obdachlosigkeit zur Ordnungswidrigkeit erklärt, und dies wurde 2019 vom
Verfassungsgericht – zugegebenermaßen bei fünf Sondermeinungen – mit einer
scheinheiligen Begründung, die überdies fernab jeglicher sozialer Wirklichkeit
ist, als verfassungskonform eingestuft: „Gemäß dem im Grundgesetz
niedergelegten Wertesystem hat kein Mensch das Recht auf Mittellosigkeit und
auf Obdachlosigkeit. Dieser Zustand ist nicht Bestandteil des Rechts auf
Menschenwürde.“
So weit hat sich die Mehrheit der ungarischen
Verfassungsrichter von der einst mutigen und radikalen Vertretung der moralisch
begründeten Grundrechte entfernt.
Das neue Grundgesetz Ungarns
Verfassungen haben die Funktion, als „Fassung“
für die gemeinsamen Werte eines gegebenen Landes zu dienen. Die Verfassung muss
auf einem denkbar breiten Konsens hinsichtlich der eigenen Grundwerte einer
politischen Gemeinschaft basieren. Hierfür ist es unabdingbar, dass sich die
politisch rechts und links angesiedelten Parteien gleichermaßen am Prozess der
Verfassungsgebung beteiligen, und dass hierbei auch die Gesellschaft mit
einbezogen wird. Ein weiterer wichtiger Grundwert der Verfassungen ist die
Stabilität. Während der anderthalb Jahre, die der Außerkraftsetzung der
vorherigen Verfassung vorausgingen, hat die seit 2010 amtierende Regierung
zwölf (!) Verfassungsänderungen vorgenommen, und das danach verabschiedete
Grundgesetz wurde bisher siebenmal modifiziert.
Das Grundgesetz aber wurde als eine Art
Einparteienverfassung verabschiedet, unter ausschließlicher Mitwirkung der
Regierungsparteien. Zwischen der Veröffentlichung und der Verabschiedung des
Texts verging kaum ein Monat (!), und das verfassungsgebende Parlament hatte
insgesamt neun Sitzungstage für die Beratung über den Text veranschlagt. Ein
Referendum darüber fand nicht statt, obwohl dies ebenfalls begründet gewesen
wäre. (Stattdessen erhielten die Staatsbürger von der Regierung im Februar 2011
im Rahmen einer gesetzlich nicht geregelten sogenannten „nationalen
Konsultation“ ein aus zwölf das Grundgesetz betreffenden Fragen bestehendes
Paket mit dem Titel „Fragen zur neuen Verfassung“. Es wurden insgesamt
8.093.000 Fragebögen an die Bevölkerung verschickt, 11,3 % davon wurden von den
Wahlbürgern ausgefüllt.)
Das Grundgesetz trat am 1. Januar 2012 in
Kraft; es handelt sich um einen im 21. Jahrhundert verfassten Text, der
ideologisch geprägt und mit kollektivistischen Zügen belastet ist. Er wird von
einem weitschweifigen „Nationalen Bekenntnis“ eingeleitet, das der
Verfassungsmäßigkeit schon von vornherein entgegenläuft, und nimmt gewisse
„Errungenschaften der historischen Verfassung“ vollkommen unklaren Inhalts mit
in das Grundgesetz auf. Dieses Grundgesetz vermag es kaum, von der Ganzheit der
Gesellschaft – die ja aus Gruppen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung
sowie verschiedener politischer Überzeugung besteht – akzeptiert werden zu
können. Im Gegensatz zur vorherigen Verfassung benennt dieses Grundgesetz
anstelle des Volkes die Nation als Rechtssubjekt des Verfassungsprozesses und
verkündet anstelle der früheren weltanschaulichen Neutralität die christlich-nationale
Identität. Dies wird im Nationalen Bekenntnis ausführlich dargestellt, und
somit ist diese Einleitung mehr als eine umfangreiche Präambel, da sie
normativen Inhalts ist: Die Auslegung des Grundgesetzes mit den darin
enthaltenen Grundrechten hat im Einklang mit dem Nationalen Bekenntnis zu
erfolgen.
Während in der früheren Verfassung die Wahrung
und der Schutz der Grundrechte als die allem übergeordnete Verpflichtung des
Staates geregelt waren, fehlt im Grundgesetz der Hinweis auf die Verpflichtung
des Staates, und es wird nur allgemein darauf hingewiesen, dass die Grundrechte
„geachtet werden müssen“. Der kollektivistischen Anschauung entsprechend wird
der Kreis der Bürgerpflichten erweitert: Jeder ist „verpflichtet, bei der
Wahrnehmung der staatlichen und gemeinschaftlichen Aufgaben seinen Beitrag zu
leisten“, und laut Grundgesetz gilt für jeden die Pflicht zur Arbeit: „Jeder
ist verpflichtet, mit einer entsprechend seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten
verrichteten Arbeit zum Wohlstand der Gemeinschaft beizutragen“.
Auch die auf internationalen Foren kritisierte
lebenslange Haft ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung wurde im
Grundgesetz auf Verfassungsebene gehoben. Entgegen den internationalen
Tendenzen wurde der Begriff der Heirat und der der Familie aus ideologischen
Gründen eingeschränkt, beispielsweise durch die begriffliche Ausgrenzung der
die Enkel erziehenden Großeltern aus der Familie. Durch die Bestimmung über den
Schutz des Lebens des Embryos von der Empfängnis an wurde zwar die Regelung des
Schwangerschaftsabbruchs nicht unmittelbar verschärft, es wurde dadurch aber
eine verfassungskonforme Möglichkeit zur strengeren Einschränkung der
Selbstbestimmungsrechte der Frauen eröffnet. Während früher die soziale
Sicherheit ein persönliches Recht darstellte, wurde sie im Grundgesetz in ein
staatliches Ziel umgewandelt; somit kann man soziale Maßnahmen auch „angepasst
an die für die Gemeinschaft nützliche Tätigkeit“ des Einzelnen festlegen.
Das Parlament hatte 2008 den Finanzrat mit der
Aufgabe ins Leben gerufen, über eine disziplinierte, transparente und
langfristig nachhaltige Haushaltspolitik zu wachen. Die Mitglieder des sowohl
von der Regierung als auch vom Parlament unabhängigen Finanzrates wurden für
neun Jahre gewählt. Bis 2011 hat die Regierungsmehrheit das Budget des
Finanzrates auf ein 83stel (!) der vorherigen Summe, von 835,5 Millionen auf 10
Millionen Forint einschrumpfen lassen und somit seine sachbezogene Arbeit
verunmöglicht. Den auf diese Weise für die Wahrnehmung seiner ursprünglichen
Aufgabe ungeeignet gewordenen Finanzrat hat dann das Grundgesetz mit einer
Macht ausgestattet, die ausreichen würde, um die Regierung zu Fall zu bringen:
Nach den auch im Grundgesetz niedergelegten neuen Regeln sind der Präsident der
Ungarischen Nationalbank sowie der Präsident des Staatlichen Rechnungshofes
Mitglieder des Finanzrates, und sein Vorsitzender wird vom Staatspräsidenten
ernannt. Überall sonst wird der Staatshaushalt normalerweise vom Parlament
verabschiedet, jedoch wird im Grundgesetz dieses Recht zukünftiger Parlamente
entgegen dem Grundsatz der Volkssouveränität eingeschränkt, indem es das
Inkrafttreten des Haushalts vom Einverständnis des auch über die
Parlamentswahlen hinaus amtierenden dreiköpfigen Finanzrates abhängig macht.
Die Nichterteilung dieses Einverständnisses kann zur Auflösung des Parlaments
führen.
Aussichten des autoritären Systems
Indem es den Rechtsstaat abbaut, betrachtet
das autoritäre System nicht einzelne Elemente des Rechtsstaates als ihren Gegner,
sondern alle. Denn es vertritt – sogar entgegen dem Text seiner eigenen
Verfassung – die Einheit der Macht und strebt bei Verkündung eines falschen
Kollektivismus nach persönlicher Macht, wodurch ihm jede Art von
organisatorischer oder persönlicher Autonomie als Feind erscheint. Das
autoritäre System unternimmt den Versuch, jede rechtsstaatliche Institution
auszuhöhlen und beinahe sämtliche rechtlichen und organisatorischen Garantien
abzubauen, sie inhaltlich zu entleeren. Stößt es auf internationalen und/oder
gesellschaftlichen Widerstand, so sucht es nach Möglichkeiten, dasselbe auf
Umwegen zu erreichen. Der Rechtsstaat ist dem Anschein nach schutzlos und
verletzlich, während autoritäre Systeme gefestigt zu sein scheinen. Diese
Einschätzung aber kann weder durch Analyse noch durch historische Erfahrung
bestätigt werden. Der Rechtsstaat ist vielfältig und verändert sich ständig in
Anpassung an die gesellschaftlichen Veränderungen. Die scheinbare Stabilität
der autoritären Systeme ist oft ein Zeichen mangelnder Anpassungsfähigkeit; sie
neigen also dazu, in Bewegungsunfähigkeit zu erstarren. So stürzen sie oft
unerwartet – in historischem Maßstab innerhalb von Sekunden – in sich zusammen.
***
Dieser Text befasst sich in Grundzügen mit dem
Schicksal der beiden wichtigsten Elemente des ungarischen Rechtsstaats – des
Verfassungsgerichts und der Verfassungsgesetze –, ist aber auf die bisher
sieben Änderungen des Grundgesetzes kaum eingegangen. Eine Reihe von
Grundproblemen habe ich ebenfalls nicht erwähnt: So konnten die Unabhängigkeit
der Richter, die Pressefreiheit, die freien Wahlen, die Gewissens- und
Religionsfreiheit, die Situation der Kirchen, das Selbstbestimmungsrecht, die
Freiheit der Wissenschaft, der Kultur und der Künste, das Recht auf freien Unterricht
und die Autonomie der Universitäten, die Rechte der Sinti und Roma und der
sexuellen Minderheiten sowie das Flüchtlingswesen in diesem Aufsatz aus
Platzgründen nicht Gegenstand einer Betrachtung werden. Ich werde diese Themen
– wenn vielleicht auch nicht alle – in einem folgenden, auf die Lage der
Staatsbürger fokussierenden Essay erörtern.
1) Beim
Verfassen dieses Aufsatzes stützte ich mich auf folgende, in der Redaktion des
Eötvös Károly Instituts entstandene Publikation: László Majtényi, Virág Zsugyó
(Red.), Harcz az alkotmányért (Kampf für die Verfassung), Budapest (Kalligram)
2019, 288 Seiten
Deutsche Übersetzung: Lutz Heis