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László Majtényi: Das NER (System der Nationalen Zusammenarbeit), der Staatsbürger und das Alltagsleben

analysis 2020-09-29 | Fb Sharing

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László Majtényi

 

Das NER (System der Nationalen Zusammenarbeit), der Staatsbürger und das Alltagsleben1)

Wie seit dem hl. Augustinus bekannt ist, soll(te) das europäische Recht auf moralischen Grundlagen beruhen und damit gegenüber dem Einzelnen und dessen Gemeinschaften zu rechtfertigen sein. Ferner soll jedwede rechtliche Einschränkung oder jedweder Entzug von Autonomie nicht nur indirekt – auf der Ebene des Rechtssystems –, sondern auch konkret – bezogen auf die einschränkende Rechtsvorschrift – gerechtfertigt werden. (Wir verfügen auch über einige formal nicht einschränkbare Rechte. Die Einschränkung der Grundrechte kann in der Regel nur im Interesse der Durchsetzung eines Grundrechts oder ausnahmsweise zur Geltendmachung eines verfassungsmäßigen Wertes erfolgen, und nur unter Einhaltung der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf das Ziel der Einschränkung.)

 

Entgegen diesen Überlegungen wird im Rechtssystem des autoritären Staates gewöhnlich kein mit dem des Rechtsstaates vergleichbarer Anspruch auf eine moralische Rechtfertigung erhoben – es sei denn, der Hinweis auf die Nation als Selbstzweck, der Dienst am einzig wahren Glauben in einem theokratisch basierten Rechtssystem oder gar die ebenfalls trügerischen, eine Klassenherrschaft verkündenden kollektivistischen Argumente werden als allgemeine Rechtfertigung betrachtet. Die Einforderung der Rechtstreue vom Rechtssubjekt erfolgt im autoritären Staat grundsätzlich als bloßer Herrschaftsakt, als Obrigkeitsbefehl.

 

Es ist zu untersuchen, welche Wirkung die Justiz in den autoritären Systemen – und welche in der Demokratie – auf die interpersonellen Beziehungen ausübt. Die Auswirkungen sind selbst gegenüber der autoritären Systemlogik nicht unbeschränkt. Auf das Leben der Gesellschaft und auf das der darin lebenden Individuen wirkt eine Vielzahl von formellen und informellen Regeln ein,  mit mehr oder weniger Einfluss und Effektivität und nicht zuletzt auch geprägt von persönlichen Erlebnissen. Die Attitüde der Menschen wird auch durch die Rechtsvorschriften geformt, aber nie im absoluten Sinne. Wie uns die Geschichte lehrt, gibt es zahlreiche Formen menschlicher Autonomie, die sogar in totalitären Systemen fortbestehen. Wenn z. B. eine Person die Menschenwürde achtet und die Homophobie – vielleicht nicht aus Überzeugung, sondern durch ein schwules Familienmitglied oder einen schwulen Freund beeinflusst – ablehnt, so wird diese Person auch dann nicht homophob, wenn die im lebendigen autoritären Recht geltenden homophoben Inhalte in den staatlich kontrollierten Medien ständig auf sie einprasseln. Ein solcher Bürger gibt seine Überzeugung auch dann nicht auf – er spricht höchstens nicht davon –, wenn er hört, dass selbst der Präsident des die Volkssouveränität vertretenden (!) ungarischen Parlaments die Gleichberechtigung der sexuellen Minderheiten persönlich in Zweifel zieht. Dieselben Äußerungen aber können bei einem zu Vorurteilen neigenden Menschen mit vagen Überzeugungen bereits zur Festigung von Vorurteilen beitragen.

 

Die staatliche Förderung einer in erster Linie rituell festgelegten, äußerlichen Religiosität; die massenhafte Übergabe einst weltanschaulich neutraler Schulen in kirchliche Verwaltung; die durch die Mehrheit der kirchlich verwalteten Schulen vermittelte unkritische Verhaltensweise der Macht gegenüber – all das kann in Gesellschaften, in denen die Säkularisierung bereits fortgeschritten ist, sozial wahrnehmbare Veränderungen der Verhaltensmuster bewirken. Dabei übt dies eine widersprüchliche Wirkung auf den kirchlichen Einfluss in der Gesellschaft aus, da diese Maßnahmen nicht wesentlich zum Rückgang der Säkularisierung beitragen und für die Evangelisationsbestrebungen der historischen Kirchen gerade nicht hilfreich sind. Solche Maßnahmen können viele unter den tiefgläubigen Menschen dazu bewegen, sich bei der Ausübung ihres Glaubens persönlichen, autonomen, kleinen, von der Staatsmacht unabhängigen Gemeinschaften zuzuwenden. Einige sehr renommierte kirchliche Schulen – auch in Ungarn gibt es dafür erbauliche Beispiele – jedoch sind entschlossen, ihre humanistischen Traditionen zu wahren, und der Dienst an den tagespolitischen Interessen – oft auch im Allgemeinen und ganz besonders im Sinne einer Vereinnahmung durch die staatlichen Hasskampagnen – steht ihnen ausgesprochen fern.

 

Zusammenfassend können wir die Rolle der Justiz in den interpersonellen Beziehungen als bedeutend und im Verhältnis zwischen den Bürgern und der Hoheitsgewalt als oft entscheidend bezeichnen. Im Folgenden werde ich drei der im Alltag des autoritären Systems praktizierten Machtausübungs-Techniken und je eines der zahlreichen dazugehörigen Anwendungsgebiete vorstellen.

 

 

1. Das Ressentiment als autoritäres Machtmittel

 

Als Machtmittel und mangels moralischen Fundaments benutzt (und baut) der autoritäre Staat in seinen auf Machterweiterung ausgerichteten rechtlichen Praktiken oft bewusst ein nach Nietzsche „Ressentiment“ genanntes moralisches Muster (auf), durch das gegenüber dafür auserkorenen Opfern mit Neid untermischte Gefühle von Antipathie, Abscheu und Hass sowie eine durch Ohnmacht genährte Rachsucht entwickelt werden; dies erfolgt im hier untersuchten Kontext unter staatlicher Anleitung. Das Ziel dieser Manipulation seitens der Mächtigen ist die Umleitung der durch die sozialen Spannungen freigesetzten negativen Emotionen: Im Interesse der Machterhaltung sollen diese nicht auf die Machthabenden gerichtet sein, sondern auf durch die herrschende Elite ausgewählte Hassobjekte, auf bestimmte Personen und Gruppen, also auf die offiziell vorgegebenen äußeren und inneren Feinde. Es gibt kaum eine Politik, die als moralisch verwerflicher einzustufen wäre als die der vom Staat organisierten Hasskampagnen. Dennoch können diese Kampagnen ihren politischen Auftraggebern bedeutende politische Erträge einbringen, da ihre Opfer unter den von weiten Kreisen der Gesellschaft abgelehnten Gruppen ausgewählt werden. Denn die Xenophobie – auch die unartikulierte Ablehnung gegenüber den aus ihren zerbombten Städten und Dörfern zur Flucht gezwungenen Menschen – ist selbst in den auf der Achtung der Menschenwürde basierenden Rechtsstaaten auf dem Vormarsch. An dieser Stelle werde ich trotzdem nicht den juristischen Impact der gegen die Flüchtenden dröhnenden Hasskampagne vorstellen, auch nicht die Hetze gegen Soros und die zivilen Menschenrechtsaktivisten, sondern etwas anderes: Die Ärmsten in unserer Gesellschaft sind nämlich in ähnlichem Maße bevorzugte Zielscheiben des Hasses. Im Folgenden werde ich nur auf ihre Situation kurz eingehen.

 

 

Obdachlose als Zielscheibe staatlich geschürten Hasses

 

Die Begegnung mit einem Obdachlosen setzt dem konsolidierten Bürger zu; er ist von ihm angewidert, er empfindet seine Anwesenheit als alarmierend und verstörend. Für einen in normalen Verhältnissen lebenden Bürger, der z. B. erdrückende Hypotheken für seine Wohnung abstottert, erscheint das gut sichtbare gesellschaftliche Phänomen der Obdachlosigkeit als schmerzhafte Mahnung hinsichtlich seiner eigenen existenziellen Bedrohtheit. Die Regierung, die in hohlen Phrasen christliche Werte verkündet, bemüht sich seit langem nach Kräften, den wehrlosen Obdachlosen als Sündenbock abzustempeln. Der obdachlose Mensch ist eine leichte Beute für die Macht.

 

Mit der im Herbst 2010 verabschiedeten Gesetzesänderung hatte das Parlament den Gemeinden die Möglichkeit eröffnet, die nicht bestimmungsgemäße Nutzung des öffentlichen Raumes zur Ordnungswidrigkeit zu erklären [§ 54 Abs. 4–5, LXXVIII. Gesetz von 1997]. Eine Reihe von Gemeinden nahm diese Befugnisübertragung wahr und wandelte die nicht bestimmungsgemäße Nutzung des öffentlichen Raumes in eine Ordnungswidrigkeit um. Auf Initiative des parlamentarischen Beauftragten für Bürgerrechte wurde eine dieser Verordnungen vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt [Verfassungsurteil 176/2011 (XII. 29.)]. Das Verfassungsgericht begründete sein Urteil mit der Feststellung, dass sich die Verordnung der Gemeinde gegen die ärmste Gruppe der Gesellschaft richtet und somit gegen das Verfassungsprinzip des Verbots der Diskriminierung verstößt.

 

Der Ombudsmann hatte wegen des alten [LXIX. Gesetz von 1999] und dann auch wegen des neuen Ordnungswidrigkeitsgesetzes [II. Gesetz von 2012] – in dem der ordnungswidrige Tatbestand „Nutzung des öffentlichen Raumes zu dauerhaftem Wohnen“ eingeführt wurde – das Verfassungsgericht angerufen, welches das Gesetz daraufhin für grundgesetzwidrig und nichtig erklärte. Das Verfassungsgericht hat mit seinem Beschluss 38/2012 (XI. 14.) festgestellt, dass weder die Entfernung der Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum noch der Anreiz zur Inanspruchnahme von sozialen Leistungen als verfassungsmäßige Beweggründe ausreichen, um das Leben der Obdachlosen im öffentlichen Raum zur Ordnungswidrigkeit zu erklären. Laut diesem Beschluss des Verfassungsgerichts ist die Obdachlosigkeit ein soziales Problem, das vom Staat mittels der Sozialverwaltungen und der sozialen Leistungen gehandhabt werden soll, und nicht mittels Bestrafung, weil solche Bestrafung mit dem Schutz der Menschenwürde unvereinbar ist.

 

Die Regierungsmehrheit reagierte auf diese Entscheidung mit einer ihrer Lieblingsmethoden und baute die Verfassung sozusagen „darüber“; ergo schrieb sie mit der vierten Änderung die verfassungswidrige Regelung selbst in die Verfassung hinein.

 

Das inzwischen mit von den Regierungsparteien nominierten und gewählten Richtern aufgefüllte Verfassungsgericht assistierte bei alledem mit einer unwürdigen Argumentation. Im Beschluss 29/2015 (X. 2.) des Verfassungsgerichts wird betreffs der legislativen Befugnisübertragung zur Bestrafung durch die Gemeinden festgestellt, dass dies mit dem Menschenbild des Grundgesetzes (!) im Einklang stehe. In der neumodischen Begründung des Verfassungsgerichts heißt es: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das des isolierten Einzelnen, sondern das der in der Gesellschaft lebenden verantwortungsvollen Persönlichkeit. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft wird im Grundgesetz nämlich im Zeichen der Eingebundenheit des Einzelnen in die Gemeinschaft festgelegt …“. Die siebte Grundgesetzänderung hat vom 15. Oktober 2018 an nicht nur die Möglichkeit eines Verbots eingeräumt, sondern die Nutzung des öffentlichen Raumes zu dauerhaftem Wohnen ausdrücklich verboten. Der auf die siebte Verfassungsänderung folgende Beschluss des Verfassungsgerichts [19/2019 (VI. 18.)] begründet die Verfassungskonformität der Strafbarkeit von Obdachlosigkeit mit der Feststellung, dass kein Mensch das Recht auf Obdachlosigkeit habe – und markiert damit den moralischen Tiefpunkt in der Tätigkeit ungarischer Verfassungsrichter.

 

Wir alle sind schwach gegenüber dem Staat. Der den Geflüchteten beistehende Menschenrechtsaktivist, der Obdachlose oder morgen schon jede andere Person kann ins Fadenkreuz der Verwaltung und der Organe der Staatsgewalt rücken. Das Schweigen macht einen in dieser Situation zum Mittäter. Das Wort gegen die Verfolgung der Obdachlosen nicht zu erheben verletzt unsere eigene Menschenwürde: „Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude. Als sie die Katholiken holten, habe ich geschwiegen, ich bin ja Protestant. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ (Martin Niemöller)

 

 

2. Die Indoktrination

 

Der Rechtsstaat schaut auf jeden seiner Bürger als auf einen Träger der Menschenwürde und achtet die Entscheidungen, die jeder Einzelne zu seinen eigenen Lebensbedingungen trifft. Die rechtsstaatliche Justiz zieht die Grenzen der Freiheit eines Menschen entlang der Grenze der Freiheit eines anderen Menschen; das bedeutet, dass es uns nicht frei steht, bei Ausübung unserer Freiheiten die Freiheit anderer Menschen einzuschränken, ihnen zu schaden. Ferner ist der Rechtsstaat nicht ideologisch geprägt; seine Werte offenbaren sich größtenteils in Form von Verfahrensvorschriften. Der Rechtsstaat ist also nicht nur im Hinblick auf die Hautfarbe seiner Bürger, sondern auch bezüglich ihrer Weltanschauungen und Lebensformen sozusagen farbenblind – ihm sind alle Bürger gleichermaßen lieb, er behandelt und beurteilt die Angelegenheiten von allen mit der gleichen Gerechtigkeit.

 

Im Gegensatz dazu verkündet der autoritäre Staat Forderungen weltanschaulichen Inhalts und ist bestrebt, diese seinen Bürgern aufzuzwingen. Seine an die Tugend und die guten Lebensbedingungen gestellten Anforderungen sind also mit der Präferenz und/oder mit dem Verbot gewisser Lebensformen und Weltanschauungen verbunden. Diese Indoktrination der Gesellschaft erfolgt aber nicht einmal nach dem Gleichheitsprinzip: Während man gegenüber den Untergebenen Strenge walten lässt, begegnet man vielfältigen devianten Verhaltensweisen der Machtelite mit Nachsicht. Verstoßen die Privilegierten gegen die Verhaltensmuster, die sie selbst von den „unteren Ständen“ einfordern, wird diesbezüglich oft ein Auge zugedrückt. Ein typischer Fall der Indoktrination ist die Diskriminierung bestimmter Religionsgemeinschaften und Kirchen – das aber ist die traurige Realität im gegenwärtigen ungarischen Alltag und wurde vom früheren Verfassungsgericht, wie auch in den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, für rechtswidrig erklärt. (Gegen die Ungarische Evangelikale Geschwistergemeinschaft, die wegen ihrer auf dem sozialen Gebiet erbrachten außergewöhnlichen Leistungen allgemein viel Anerkennung findet, führt der Staat sogar eigens einen Krieg.) Da es jedoch zur Kirchenpolitik des NER ziemlich viel Literatur gibt, wende ich mich hier einem anderen Thema zu: der juristischen Regelung der Familie.

 

Es handelt sich um ein charakteristisches Terrain der mittelbaren Indoktrination der Gesellschaft, wenn sich der Staat in den Alltag der Menschen hineindrängt, indem er aus ideologischen Überlegungen ein eng gefasstes Familienmodell unterstützt, zugleich aber andere Modelle nicht anerkennt und einschränkt. Während er das von ihm erwartete familiäre Lebensmodell mit positiven juristischen Präferenzen belohnt, wendet er gegenüber den davon abweichenden Modellen eine negative Diskriminierung an.

 

 

Die Abänderung des Familienbegriffs

 

Ausgangspunkt der ungarischen Regelung ist eine Position, die die ihrer Definition entsprechende Familie als wertvoller einstuft als das Lebensmodell von unabhängigen, alleinstehenden Menschen bzw. von alleinerziehenden Eltern. Des Weiteren schreibt der autoritäre Staat natürlich auch genau vor, wie diese Familie beschaffen sein muss. Denn nicht alle Formen einer emotionalen und wirtschaftlichen Lebensgemeinschaft sind dieser Anerkennung würdig. Nach der Vorgabe kann die Familie ausschließlich in der Ehe zwischen Mann und Frau und im Eltern-Kind-Verhältnis begründet sein. Nicht nur gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern, sondern auch nichtgleichgeschlechtlichen Partnerschaften wird das Gefühl verwehrt, vom Staat ähnlich wie Ehepartner anerkannt zu werden. Darüber hinaus dürfen in Ungarn sogar Großeltern, die die Kinder ihrer eigenen verstorbenen Kinder – also ihre eigenen Enkel – erziehen, mit diesen Kindern nicht in einer „Familie“ zusammenleben. Nicht einmal kinderlose Ehepaare haben Platz in diesem Familienbegriff. Das Grundgesetz schreibt ferner vor, dass die Kinder im Erwachsenenalter für ihre bedürftigen Eltern sorgen müssen, selbst dann, wenn diese Eltern ihre Kinder ein Leben lang vernachlässigt haben. Laut Grundgesetz lebt die Familie in Liebe und Treue. Es ist rätselhaft, wie die Justiz Liebe verordnen kann.

 

Der Bürgerbeauftragte für Grundrechte hatte zwecks Feststellung der Grundgesetzwidrigkeit des gesetzlich festgelegten Familienbegriffs das Verfassungsgericht angerufen, und das daraufhin entstandene Urteil des Verfassungsgerichts [43/2012 (XII. 20.)] beurteilte den Familienbegriff als viel zu eng gefasst. Dabei berief sich das Verfassungsgericht auf einen seiner früheren Beschlüsse [1995, 82., 86.], der besagt, dass untersucht werden muss, ob „… die Verteilung unter den Personen, die sich im Hinblick auf die zu verteilenden Rechte und Pflichten in einer ähnlichen Lage befinden, unter Achtung des Rechts auf Menschenwürde – das heißt: mit Gleichbehandlung der Personen und aufgrund der mit ähnlicher Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit vorgenommenen Erwägung der Interessen jedes Einzelnen – erfolgt.“ Der Staat schützt die Familie, als eine den Fortbestand der Nation wahrende Institution, und achtet das Privat- und Familienleben. Aus diesen beiden Verpflichtungen leitet sich laut Meinung des damals noch unabhängigen Verfassungsgerichts folgendes Postulat ab: Wenn der Gesetzgeber beabsichtigt, Rechte und Pflichten bezüglich der Familien festzulegen, so darf er den Personen, die die Familiengründung in anderen dauerhaften emotionalen und wirtschaftlichen – vom Gesetzgeber zumindest in einzelnen Elementen geregelten und anerkannten – Lebensgemeinschaften ohne oder vor der Eheschließung zu verwirklichen wünschen, bereits zugestandene Rechte nicht entziehen; er darf das bereits bestehende Schutzniveau der Partnerschaftsformen nicht verringern. Ebenfalls aus dem Grundgesetz folgt das Postulat, dass keine den Schutz der Familie als Institution betreffende Verpflichtung dazu führen darf, dass Kindern jedwede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung widerfährt wegen der Umstände, unter denen sie aufwachsen – ob also ihre Eltern in einer Ehe oder in anderen Modellen von Lebensgemeinschaften leben.

 

Anfangs wurde der Familienbegriff im Grundgesetz selbst nicht auf die Ehe und auf das Eltern-Kind-Verhältnis beschränkt; die Entscheidung in dieser wichtigen Frage des Privatlebens wurde den Bürgern überlassen. Diese Auffassung wurde auch vom Verfassungsgericht bestätigt. Die Regierungsmehrheit reagierte auf diesen Beschluss – sozusagen als Riposte – auch diesmal mit einem „Überbau“ der Verfassung, also mit einer Grundgesetzänderung, und so wurde mit der vierten Grundgesetzänderung der Familienbegriff in den Text des Grundgesetzes aufgenommen: Als Grundlage des familiären Verhältnisses wurden die Ehe (die nur zwischen Mann und Frau zustande kommen kann) beziehungsweise das Eltern-Kind-Verhältnis festgelegt. Als Antwort auf einen Beschluss des Verfassungsgerichts unterscheidet also seit seiner vierten Änderung das Grundgesetz selbst auf nachteilige Weise zwischen menschlichen Beziehungen, indem es nunmehr Lebenspartner unterschiedlichen Geschlechts (selbst wenn sie gemeinsame Kinder erziehen), kinderlose Ehepartner, gleichgeschlechtliche Paare und andere familiäre Beziehungen aus dem Familienbegriff ausgrenzt.

Es sei angemerkt, dass es gleichgeschlechtlichen Paaren gesetzlich nicht zusteht, Kinder zu adoptieren. Während im Grundgesetz, im Gesetz zum Schutz der Familie und im Bürgerlichen Gesetzbuch die Ehe unter den Partnerschaftsformen präferiert wird, gibt es ein separates Gesetz zur Regelung der eingetragenen Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare: Sie werden nicht als nahe Angehörige eingestuft, ihre rechtliche Situation ist jedoch – mit den oben angeführten Einschränkungen – mit der der Ehepartner vergleichbar. Am schlechtesten sind die nicht eingetragenen Lebenspartner unterschiedlichen Geschlechts gestellt, die die vermögensrechtlichen Verhältnisse ihres Zusammenlebens im Grunde nur vertraglich oder testamentarisch regeln können.

 

Diejenigen Personen, die die vom Staat festgelegten, gemeinschaftlich geltenden, ideologischen Werte nicht akzeptieren, beziehungsweise nicht die vom Grundgesetz als ideal angesehene Lebensform befolgen, können sich nicht als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft fühlen.

 

 

3. Die ewigen Geheimnisse des autoritären Staates

 

Es gibt zwar keine Gesellschaft ohne Korruption, jedoch ist einzig und allein der demokratische Rechtsstaat imstande, erfolgreich gegen die Korruption vorzugehen, sind doch alle weiteren bekannten Staaten, die das Recht nicht für das Gemeinwohl, sondern als Mittel zur Durchsetzung von Gruppeninteressen verwenden, ihrem Wesen nach korrupt. Die sich im 18. Jahrhundert gegenüber dem Absolutismus positionierende Aufklärung meinte noch mit der Öffentlichkeit in der Gesellschaft einen alles heilenden Balsam gefunden zu haben. Auch wenn sich dies als Illusion erwiesen hat, besteht bis heute kein Zweifel daran, dass in der Gesellschaft die Öffentlichkeit eines der wichtigsten Hindernisse ist, die der Korruption und allgemein den egoistischen Interessen der Machtausübenden im Wege stehen. Die Lage wird dadurch einigermaßen kompliziert, dass es – auch wenn die Öffentlichkeit die Grundlage der Demokratie ist – im nationalen und internationalen Recht auch dem Rechtsstaat zusteht, Geheimnisse zu haben. Diese rechtmäßigen Geheimnisse beziehen sich auf unterschiedliche Gebiete: angefangen bei der Terrorismusbekämpfung, über die Strafverfolgung bis hin zu einzelnen wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Die Faustregel im Rechtsstaat ist aber die transparente Regelung der öffentlichen Angelegenheiten. Und selbst wenn es auch im Rechtsstaat Geheimnisse geben kann, bildet die Geheimhaltung die Ausnahme und ist als solche befristet: Es gibt keine ewigen Geheimnisse. Die Transparenz der Staatsführung ist zwar einer der grundlegendsten auf die Situation der Staatsbürger einwirkenden Werte, aber lediglich eine politisch aktive Minderheit unter den Bürgern verfolgt diese Thematik mit Interesse; es handelt sich um Bürger – „Citoyens“ –, die sich auch sonst gegenüber der Öffentlichkeit verpflichtet fühlen und sich durch die Bereitschaft auszeichnen, die Demokratie aktiv mitzugestalten.

 

 

Die Dokumentation der Regierungssitzungen – die Abschaffung der zeitversetzten Veröffentlichung

 

Die Dokumentation der Regierungssitzung und ihre zumindest zeitversetzte Veröffentlichung ist eines der wichtigsten Elemente des Themenkomplexes Geheimhaltung und Veröffentlichung. Die schriftlichen Protokolle und Tonaufnahmen der Regierungssitzungen sind in einem Rechtsstaat zur Zeit ihrer Entstehung normalerweise nicht öffentlich zugänglich, man kann sie aber später im Archiv einsehen und erforschen. In mehreren Ländern beschäftigt sich die Verfassung selbst mit den Bestimmungen über den Umgang mit den Protokollen der Regierungssitzungen.

 

Seit dem Antritt der ersten unabhängigen ungarischen Regierung (Erstes Ungarisches Ministerium genannt) im April 1848 gibt es eine kontinuierliche Dokumentation der Regierungssitzungen, die Zeit der rechtsextremen und kommunistischen Diktaturen inbegriffen. Wenn es also eine Bewandtnis hat, sich heutzutage auf die gegenwärtige Existenz einer historischen Verfassung zu beziehen – was das NER ja so gerne tut –, dann können wir behaupten, dass das Festhalten der in den Regierungssitzungen geäußerten Inhalte Bestandteil dieser historischen Verfassung ist. Über die Sitzungen der 1990 vereidigten ersten Regierung nach der Wende mussten noch ein wortwörtliches Protokoll und darüber hinaus eine Zusammenfassung verfertigt werden. Zwei Jahre später aber wurde die wortwörtliche Protokollierung der Regierungssitzungen eingestellt. In der Zeit danach gab es diesbezüglich eine wechselvolle Rechtsprechung. Das Verfassungsgericht hat 2006 festgestellt, dass die inhaltliche Dokumentation der Regierungssitzungen in einem vom Parlament verabschiedeten Gesetz hätte geregelt werden müssen. Laut diesem Beschluss sind die hoheitliche Rechte ausübenden Institutionen verpflichtet, ihre Arbeit angemessen zu dokumentieren.

 

Das 2010 neu gewählte Parlament erließ ein neues Gesetz, das, der früheren Regelung Folge leistend, die Verpflichtung zum Tonmitschnitt auch weiterhin vorschrieb. Einige Wochen später aber wurde ein Regierungsbeschluss zur Verfahrensordnung der Amtsführung veröffentlicht, in der – in Widerspruch zum geltenden Gesetz – keine Verpflichtung zum Tonmitschnitt gefordert wurde: „Über die Sitzung der Regierung wird eine Zusammenfassung erstellt; in begründeten Fällen, auf Bitten eines Regierungsmitglieds und mit Erlaubnis des Ministerpräsidenten sofortig, ansonsten am Ende der Sitzung, wird eine für die Erstellung der Zusammenfassung geeignete Tonaufnahme verfertigt.“

 

Obwohl die Regierung gesetzlich dazu verpflichtet war, entstand zwischen 2010 und 2018 kein Tonmitschnitt (und natürlich auch kein wortwörtliches Protokoll) über die Regierungssitzungen. Mit dem Haushaltsgesetz vom Sommer 2018 hat die Regierung sogar die offizielle Regelung dieser verfassungs- und gesetzeswidrigen Praxis angepasst.

 

Anhand einer vom Eötvös Károly Institut beantragten Offenlegung von Daten öffentlichen Interesses zeigte sich eindeutig, dass zwischen 2010 und 2018 keine Tonmitschnitte von den Regierungssitzungen gemacht worden sind. Deshalb erstatteten wir Anzeige wegen des Verstoßes gegen § 220 Punkt b) Abs. 1 des C. Gesetzes von 2012 des Bürgerlichen Gesetzbuches – wegen Missbrauchs von Daten öffentlichen Interesses. Nach der hier angegebenen Gesetzesstelle des Bürgerlichen Gesetzbuches wird der Tatbestand des Missbrauchs von Daten öffentlichen Interesses von demjenigen begangen, „der gegen die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich der öffentlichen Zugänglichkeit von Daten öffentlichen Interesses verstößt (…) und Daten öffentlichen Interesses unzugänglich macht“. Die Zentrale Ermittelnde Oberstaatsanwaltschaft hat unsere Anzeige abgewiesen, wogegen wir Beschwerde eingelegt haben – die von der Generalstaatsanwaltschaft ebenfalls abgelehnt wurde. Außer den die Regierungsentscheidungen beinhaltenden Zusammenfassungen wird für die zukünftigen Generationen keine Spur davon überliefert sein, worüber in den Regierungssitzungen tatsächlich diskutiert wird.

 

Es ist allgemein bekannt, dass in Ungarn gegenüber den Institutionen ein besonders großes Misstrauen herrscht. Ferner zeigen Forschungsergebnisse deutlich, dass die Bereitschaft zur Rechtsbefolgung und das den Institutionen seitens der Gesellschaft entgegengebrachte Vertrauen eng miteinander zusammenhängen. Unterdessen ist aber die Regierung nicht einmal gewillt, ihre eigenen Gesetze einzuhalten.

 

Die jetzige Regierung hat in ihrer Wahlkampagne die Sittenverderbnis und die Korruptheit des Rechtsstaates gegeißelt und Ordnung versprochen, um an die Macht zu gelangen. Nun könnte man aber meinen, sie würde ihre Strategie doch darauf ausrichten, das normative Chaos innerhalb der Gesellschaft zu vergrößern. Aus ihren Rechtsverletzungen und Rechtsvorschriften resultieren Unsicherheit generierende, anomische Verhältnisse. Die Kooperation und die Solidarität unter den Bürgern werden zerstört, und auch das Vertrauen – das für das Verständnis gegenüber anderen Personen und den Institutionen unentbehrlich ist – trägt Schaden davon. Die wichtigsten Entscheidungen werden in geheimen Räumen getroffen und nirgendwo dokumentiert – worauf Misstrauen und Missachtung der Normen die adäquaten Antworten der Gesellschaft sind.

 

Anmerkung:

1) Dieses Schreiben entstand unter Verwendung der Analysen des Eötvös Károly Instituts.

 

 

Deutsche Übersetzung: Lutz Heis

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