László Majtényi
Das NER (System der Nationalen Zusammenarbeit), der Staatsbürger und das Alltagsleben1)
Wie seit dem hl. Augustinus bekannt ist,
soll(te) das europäische Recht auf moralischen Grundlagen beruhen und damit
gegenüber dem Einzelnen und dessen Gemeinschaften zu rechtfertigen sein. Ferner
soll jedwede rechtliche Einschränkung oder jedweder Entzug von Autonomie nicht
nur indirekt – auf der Ebene des Rechtssystems –, sondern auch konkret –
bezogen auf die einschränkende Rechtsvorschrift – gerechtfertigt werden. (Wir
verfügen auch über einige formal nicht einschränkbare Rechte. Die Einschränkung
der Grundrechte kann in der Regel nur im Interesse der Durchsetzung eines
Grundrechts oder ausnahmsweise zur Geltendmachung eines verfassungsmäßigen Wertes
erfolgen, und nur unter Einhaltung der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf das
Ziel der Einschränkung.)
Entgegen diesen Überlegungen wird im
Rechtssystem des autoritären Staates gewöhnlich kein mit dem des Rechtsstaates
vergleichbarer Anspruch auf eine moralische Rechtfertigung erhoben – es sei
denn, der Hinweis auf die Nation als Selbstzweck, der Dienst am einzig wahren
Glauben in einem theokratisch basierten Rechtssystem oder gar die ebenfalls
trügerischen, eine Klassenherrschaft verkündenden kollektivistischen Argumente
werden als allgemeine Rechtfertigung betrachtet. Die Einforderung der
Rechtstreue vom Rechtssubjekt erfolgt im autoritären Staat grundsätzlich als
bloßer Herrschaftsakt, als Obrigkeitsbefehl.
Es ist zu untersuchen, welche Wirkung die Justiz
in den autoritären Systemen – und welche in der Demokratie – auf die
interpersonellen Beziehungen ausübt. Die Auswirkungen sind selbst gegenüber der
autoritären Systemlogik nicht unbeschränkt. Auf das Leben der
Gesellschaft und auf das der darin lebenden Individuen wirkt eine Vielzahl von
formellen und informellen Regeln ein,
mit mehr oder weniger Einfluss und Effektivität und nicht zuletzt auch
geprägt von persönlichen Erlebnissen. Die Attitüde der Menschen wird auch durch
die Rechtsvorschriften geformt, aber nie im absoluten Sinne. Wie uns die
Geschichte lehrt, gibt es zahlreiche Formen menschlicher Autonomie, die sogar
in totalitären Systemen fortbestehen. Wenn z. B. eine Person die Menschenwürde
achtet und die Homophobie – vielleicht nicht aus Überzeugung, sondern durch ein
schwules Familienmitglied oder einen schwulen Freund beeinflusst – ablehnt, so
wird diese Person auch dann nicht homophob, wenn die im lebendigen
autoritären Recht geltenden homophoben Inhalte in den staatlich
kontrollierten Medien ständig auf sie einprasseln. Ein solcher Bürger gibt
seine Überzeugung auch dann nicht auf – er spricht höchstens nicht davon –,
wenn er hört, dass selbst der Präsident des die Volkssouveränität vertretenden
(!) ungarischen Parlaments die Gleichberechtigung der sexuellen Minderheiten
persönlich in Zweifel zieht. Dieselben Äußerungen aber können bei einem zu
Vorurteilen neigenden Menschen mit vagen Überzeugungen bereits zur Festigung
von Vorurteilen beitragen.
Die staatliche Förderung einer in erster Linie
rituell festgelegten, äußerlichen Religiosität; die massenhafte Übergabe einst
weltanschaulich neutraler Schulen in kirchliche Verwaltung; die durch die
Mehrheit der kirchlich verwalteten Schulen vermittelte unkritische
Verhaltensweise der Macht gegenüber – all das kann in Gesellschaften, in denen
die Säkularisierung bereits fortgeschritten ist, sozial wahrnehmbare
Veränderungen der Verhaltensmuster bewirken. Dabei übt dies eine
widersprüchliche Wirkung auf den kirchlichen Einfluss in der Gesellschaft aus,
da diese Maßnahmen nicht wesentlich zum Rückgang der Säkularisierung beitragen
und für die Evangelisationsbestrebungen der historischen Kirchen gerade nicht
hilfreich sind. Solche Maßnahmen können viele unter den tiefgläubigen Menschen
dazu bewegen, sich bei der Ausübung ihres Glaubens persönlichen, autonomen,
kleinen, von der Staatsmacht unabhängigen Gemeinschaften zuzuwenden. Einige
sehr renommierte kirchliche Schulen – auch in Ungarn gibt es dafür erbauliche
Beispiele – jedoch sind entschlossen, ihre humanistischen Traditionen zu
wahren, und der Dienst an den tagespolitischen Interessen – oft auch im
Allgemeinen und ganz besonders im Sinne einer Vereinnahmung durch die
staatlichen Hasskampagnen – steht ihnen ausgesprochen fern.
Zusammenfassend können wir die Rolle der
Justiz in den interpersonellen Beziehungen als bedeutend und im
Verhältnis zwischen den Bürgern und der Hoheitsgewalt als oft entscheidend
bezeichnen. Im Folgenden werde ich drei der im Alltag des autoritären Systems
praktizierten Machtausübungs-Techniken und je eines der zahlreichen
dazugehörigen Anwendungsgebiete vorstellen.
1. Das Ressentiment als autoritäres
Machtmittel
Als Machtmittel und mangels moralischen
Fundaments benutzt (und baut) der autoritäre Staat in seinen auf Machterweiterung
ausgerichteten rechtlichen Praktiken oft bewusst ein nach Nietzsche
„Ressentiment“ genanntes moralisches Muster (auf), durch das gegenüber dafür
auserkorenen Opfern mit Neid untermischte Gefühle von Antipathie, Abscheu und
Hass sowie eine durch Ohnmacht genährte Rachsucht entwickelt werden; dies
erfolgt im hier untersuchten Kontext unter staatlicher Anleitung. Das Ziel
dieser Manipulation seitens der Mächtigen ist die Umleitung der durch die
sozialen Spannungen freigesetzten negativen Emotionen: Im Interesse der
Machterhaltung sollen diese nicht auf die Machthabenden gerichtet sein, sondern
auf durch die herrschende Elite ausgewählte Hassobjekte, auf bestimmte Personen
und Gruppen, also auf die offiziell vorgegebenen äußeren und inneren Feinde. Es
gibt kaum eine Politik, die als moralisch verwerflicher einzustufen wäre als
die der vom Staat organisierten Hasskampagnen. Dennoch können diese Kampagnen
ihren politischen Auftraggebern bedeutende politische Erträge einbringen, da
ihre Opfer unter den von weiten Kreisen der Gesellschaft abgelehnten Gruppen
ausgewählt werden. Denn die Xenophobie – auch die unartikulierte Ablehnung
gegenüber den aus ihren zerbombten Städten und Dörfern zur Flucht gezwungenen
Menschen – ist selbst in den auf der Achtung der Menschenwürde basierenden
Rechtsstaaten auf dem Vormarsch. An dieser Stelle werde ich trotzdem nicht den
juristischen Impact der gegen die Flüchtenden dröhnenden Hasskampagne
vorstellen, auch nicht die Hetze gegen Soros und die zivilen Menschenrechtsaktivisten,
sondern etwas anderes: Die Ärmsten in unserer Gesellschaft sind nämlich in
ähnlichem Maße bevorzugte Zielscheiben des Hasses. Im Folgenden werde ich nur
auf ihre Situation kurz eingehen.
Obdachlose als Zielscheibe staatlich
geschürten Hasses
Die Begegnung mit einem Obdachlosen setzt dem
konsolidierten Bürger zu; er ist von ihm angewidert, er empfindet seine
Anwesenheit als alarmierend und verstörend. Für einen in normalen Verhältnissen
lebenden Bürger, der z. B. erdrückende Hypotheken für seine Wohnung abstottert,
erscheint das gut sichtbare gesellschaftliche Phänomen der Obdachlosigkeit als
schmerzhafte Mahnung hinsichtlich seiner eigenen existenziellen Bedrohtheit.
Die Regierung, die in hohlen Phrasen christliche Werte verkündet, bemüht sich
seit langem nach Kräften, den wehrlosen Obdachlosen als Sündenbock
abzustempeln. Der obdachlose Mensch ist eine leichte Beute für die Macht.
Mit der im Herbst 2010 verabschiedeten
Gesetzesänderung hatte das Parlament den Gemeinden die Möglichkeit eröffnet,
die nicht bestimmungsgemäße Nutzung des öffentlichen Raumes zur
Ordnungswidrigkeit zu erklären [§ 54 Abs. 4–5, LXXVIII. Gesetz von 1997]. Eine
Reihe von Gemeinden nahm diese Befugnisübertragung wahr und wandelte die nicht
bestimmungsgemäße Nutzung des öffentlichen Raumes in eine Ordnungswidrigkeit
um. Auf Initiative des parlamentarischen Beauftragten für Bürgerrechte wurde
eine dieser Verordnungen vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt
[Verfassungsurteil 176/2011 (XII. 29.)]. Das Verfassungsgericht begründete sein
Urteil mit der Feststellung, dass sich die Verordnung der Gemeinde gegen die
ärmste Gruppe der Gesellschaft richtet und somit gegen das Verfassungsprinzip
des Verbots der Diskriminierung verstößt.
Der Ombudsmann hatte wegen des alten [LXIX.
Gesetz von 1999] und dann auch wegen des neuen Ordnungswidrigkeitsgesetzes [II.
Gesetz von 2012] – in dem der ordnungswidrige Tatbestand „Nutzung des
öffentlichen Raumes zu dauerhaftem Wohnen“ eingeführt wurde – das
Verfassungsgericht angerufen, welches das Gesetz daraufhin für
grundgesetzwidrig und nichtig erklärte. Das Verfassungsgericht hat mit seinem
Beschluss 38/2012 (XI. 14.) festgestellt, dass weder die Entfernung der
Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum noch der Anreiz zur Inanspruchnahme von
sozialen Leistungen als verfassungsmäßige Beweggründe ausreichen, um das Leben
der Obdachlosen im öffentlichen Raum zur Ordnungswidrigkeit zu erklären. Laut
diesem Beschluss des Verfassungsgerichts ist die Obdachlosigkeit ein soziales
Problem, das vom Staat mittels der Sozialverwaltungen und der sozialen
Leistungen gehandhabt werden soll, und nicht mittels Bestrafung, weil solche
Bestrafung mit dem Schutz der Menschenwürde unvereinbar ist.
Die Regierungsmehrheit reagierte auf diese
Entscheidung mit einer ihrer Lieblingsmethoden und baute die Verfassung
sozusagen „darüber“; ergo schrieb sie mit der vierten Änderung die
verfassungswidrige Regelung selbst in die Verfassung hinein.
Das inzwischen mit von den Regierungsparteien
nominierten und gewählten Richtern aufgefüllte Verfassungsgericht assistierte
bei alledem mit einer unwürdigen Argumentation. Im Beschluss 29/2015 (X. 2.)
des Verfassungsgerichts wird betreffs der legislativen Befugnisübertragung zur
Bestrafung durch die Gemeinden festgestellt, dass dies mit dem Menschenbild des
Grundgesetzes (!) im Einklang stehe. In der neumodischen Begründung des
Verfassungsgerichts heißt es: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das
des isolierten Einzelnen, sondern das der in der Gesellschaft lebenden
verantwortungsvollen Persönlichkeit. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und
der Gemeinschaft wird im Grundgesetz nämlich im Zeichen der Eingebundenheit des
Einzelnen in die Gemeinschaft festgelegt …“. Die siebte Grundgesetzänderung hat
vom 15. Oktober 2018 an nicht nur die Möglichkeit eines Verbots eingeräumt,
sondern die Nutzung des öffentlichen Raumes zu dauerhaftem Wohnen ausdrücklich
verboten. Der auf die siebte Verfassungsänderung folgende Beschluss des
Verfassungsgerichts [19/2019 (VI. 18.)] begründet die Verfassungskonformität
der Strafbarkeit von Obdachlosigkeit mit der Feststellung, dass kein Mensch das
Recht auf Obdachlosigkeit habe – und markiert damit den moralischen Tiefpunkt
in der Tätigkeit ungarischer Verfassungsrichter.
Wir alle sind schwach gegenüber dem Staat. Der
den Geflüchteten beistehende Menschenrechtsaktivist, der Obdachlose oder morgen
schon jede andere Person kann ins Fadenkreuz der Verwaltung und der Organe der
Staatsgewalt rücken. Das Schweigen macht einen in dieser Situation zum Mittäter.
Das Wort gegen die Verfolgung der Obdachlosen nicht zu erheben verletzt unsere
eigene Menschenwürde: „Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich
geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler. Als sie die Juden holten, habe
ich geschwiegen, ich war ja kein Jude. Als sie die Katholiken holten, habe ich
geschwiegen, ich bin ja Protestant. Als sie mich holten, gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.“ (Martin Niemöller)
2. Die Indoktrination
Der Rechtsstaat schaut auf jeden seiner Bürger
als auf einen Träger der Menschenwürde und achtet die Entscheidungen, die jeder
Einzelne zu seinen eigenen Lebensbedingungen trifft. Die rechtsstaatliche
Justiz zieht die Grenzen der Freiheit eines Menschen entlang der Grenze der
Freiheit eines anderen Menschen; das bedeutet, dass es uns nicht frei steht,
bei Ausübung unserer Freiheiten die Freiheit anderer Menschen einzuschränken,
ihnen zu schaden. Ferner ist der Rechtsstaat nicht ideologisch geprägt; seine
Werte offenbaren sich größtenteils in Form von Verfahrensvorschriften. Der
Rechtsstaat ist also nicht nur im Hinblick auf die Hautfarbe seiner Bürger,
sondern auch bezüglich ihrer Weltanschauungen und Lebensformen sozusagen
farbenblind – ihm sind alle Bürger gleichermaßen lieb, er behandelt und
beurteilt die Angelegenheiten von allen mit der gleichen Gerechtigkeit.
Im Gegensatz dazu verkündet der autoritäre
Staat Forderungen weltanschaulichen Inhalts und ist bestrebt, diese seinen
Bürgern aufzuzwingen. Seine an die Tugend und die guten Lebensbedingungen
gestellten Anforderungen sind also mit der Präferenz und/oder mit dem Verbot
gewisser Lebensformen und Weltanschauungen verbunden. Diese Indoktrination der
Gesellschaft erfolgt aber nicht einmal nach dem Gleichheitsprinzip: Während man
gegenüber den Untergebenen Strenge walten lässt, begegnet man vielfältigen
devianten Verhaltensweisen der Machtelite mit Nachsicht. Verstoßen die
Privilegierten gegen die Verhaltensmuster, die sie selbst von den „unteren
Ständen“ einfordern, wird diesbezüglich oft ein Auge zugedrückt. Ein typischer
Fall der Indoktrination ist die Diskriminierung bestimmter
Religionsgemeinschaften und Kirchen – das aber ist die traurige Realität im
gegenwärtigen ungarischen Alltag und wurde vom früheren Verfassungsgericht, wie
auch in den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, für
rechtswidrig erklärt. (Gegen die Ungarische Evangelikale
Geschwistergemeinschaft, die wegen ihrer auf dem sozialen Gebiet erbrachten
außergewöhnlichen Leistungen allgemein viel Anerkennung findet, führt der Staat
sogar eigens einen Krieg.) Da es jedoch zur Kirchenpolitik des NER ziemlich
viel Literatur gibt, wende ich mich hier einem anderen Thema zu: der
juristischen Regelung der Familie.
Es handelt sich um ein charakteristisches
Terrain der mittelbaren Indoktrination der Gesellschaft, wenn sich der Staat in
den Alltag der Menschen hineindrängt, indem er aus ideologischen Überlegungen
ein eng gefasstes Familienmodell unterstützt, zugleich aber andere Modelle
nicht anerkennt und einschränkt. Während er das von ihm erwartete familiäre
Lebensmodell mit positiven juristischen Präferenzen belohnt, wendet er
gegenüber den davon abweichenden Modellen eine negative Diskriminierung an.
Die Abänderung des Familienbegriffs
Ausgangspunkt der ungarischen Regelung ist
eine Position, die die ihrer Definition entsprechende Familie als
wertvoller einstuft als das Lebensmodell von unabhängigen, alleinstehenden
Menschen bzw. von alleinerziehenden Eltern. Des Weiteren schreibt der
autoritäre Staat natürlich auch genau vor, wie diese Familie beschaffen sein
muss. Denn nicht alle Formen einer emotionalen und wirtschaftlichen
Lebensgemeinschaft sind dieser Anerkennung würdig. Nach der Vorgabe kann die
Familie ausschließlich in der Ehe zwischen Mann und Frau und im
Eltern-Kind-Verhältnis begründet sein. Nicht nur gleichgeschlechtlichen
Lebenspartnern, sondern auch nichtgleichgeschlechtlichen Partnerschaften wird
das Gefühl verwehrt, vom Staat ähnlich wie Ehepartner anerkannt zu werden.
Darüber hinaus dürfen in Ungarn sogar Großeltern, die die Kinder ihrer eigenen
verstorbenen Kinder – also ihre eigenen Enkel – erziehen, mit diesen Kindern
nicht in einer „Familie“ zusammenleben. Nicht einmal kinderlose Ehepaare haben
Platz in diesem Familienbegriff. Das Grundgesetz schreibt ferner vor, dass die
Kinder im Erwachsenenalter für ihre bedürftigen Eltern sorgen müssen, selbst
dann, wenn diese Eltern ihre Kinder ein Leben lang vernachlässigt haben. Laut
Grundgesetz lebt die Familie in Liebe und Treue. Es ist rätselhaft, wie die
Justiz Liebe verordnen kann.
Der Bürgerbeauftragte für Grundrechte hatte
zwecks Feststellung der Grundgesetzwidrigkeit des gesetzlich festgelegten
Familienbegriffs das Verfassungsgericht angerufen, und das daraufhin
entstandene Urteil des Verfassungsgerichts [43/2012 (XII. 20.)] beurteilte den
Familienbegriff als viel zu eng gefasst. Dabei berief sich das
Verfassungsgericht auf einen seiner früheren Beschlüsse [1995, 82., 86.], der
besagt, dass untersucht werden muss, ob „… die Verteilung unter den Personen,
die sich im Hinblick auf die zu verteilenden Rechte und Pflichten in einer
ähnlichen Lage befinden, unter Achtung des Rechts auf Menschenwürde – das
heißt: mit Gleichbehandlung der Personen und aufgrund der mit ähnlicher
Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit vorgenommenen
Erwägung der Interessen jedes Einzelnen – erfolgt.“ Der Staat schützt die
Familie, als eine den Fortbestand der Nation wahrende Institution, und achtet
das Privat- und Familienleben. Aus diesen beiden Verpflichtungen leitet sich
laut Meinung des damals noch unabhängigen Verfassungsgerichts folgendes
Postulat ab: Wenn der Gesetzgeber beabsichtigt, Rechte und Pflichten bezüglich
der Familien festzulegen, so darf er den Personen, die die Familiengründung in
anderen dauerhaften emotionalen und wirtschaftlichen – vom Gesetzgeber
zumindest in einzelnen Elementen geregelten und anerkannten –
Lebensgemeinschaften ohne oder vor der Eheschließung zu verwirklichen wünschen,
bereits zugestandene Rechte nicht entziehen; er darf das bereits bestehende
Schutzniveau der Partnerschaftsformen nicht verringern. Ebenfalls aus dem
Grundgesetz folgt das Postulat, dass keine den Schutz der Familie als
Institution betreffende Verpflichtung dazu führen darf, dass Kindern jedwede
unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung widerfährt wegen der Umstände,
unter denen sie aufwachsen – ob also ihre Eltern in einer Ehe oder in anderen
Modellen von Lebensgemeinschaften leben.
Anfangs wurde der Familienbegriff im
Grundgesetz selbst nicht auf die Ehe und auf das Eltern-Kind-Verhältnis
beschränkt; die Entscheidung in dieser wichtigen Frage des Privatlebens wurde
den Bürgern überlassen. Diese Auffassung wurde auch vom Verfassungsgericht bestätigt.
Die Regierungsmehrheit reagierte auf diesen Beschluss – sozusagen als Riposte –
auch diesmal mit einem „Überbau“ der Verfassung, also mit einer
Grundgesetzänderung, und so wurde mit der vierten Grundgesetzänderung der
Familienbegriff in den Text des Grundgesetzes aufgenommen: Als Grundlage des
familiären Verhältnisses wurden die Ehe (die nur zwischen Mann und Frau
zustande kommen kann) beziehungsweise das Eltern-Kind-Verhältnis festgelegt.
Als Antwort auf einen Beschluss des Verfassungsgerichts unterscheidet also seit
seiner vierten Änderung das Grundgesetz selbst auf nachteilige Weise zwischen
menschlichen Beziehungen, indem es nunmehr Lebenspartner unterschiedlichen
Geschlechts (selbst wenn sie gemeinsame Kinder erziehen), kinderlose Ehepartner,
gleichgeschlechtliche Paare und andere familiäre Beziehungen aus dem
Familienbegriff ausgrenzt.
Es sei angemerkt, dass es
gleichgeschlechtlichen Paaren gesetzlich nicht zusteht, Kinder zu adoptieren.
Während im Grundgesetz, im Gesetz zum Schutz der Familie und im Bürgerlichen
Gesetzbuch die Ehe unter den Partnerschaftsformen präferiert wird, gibt es ein
separates Gesetz zur Regelung der eingetragenen Partnerschaft
gleichgeschlechtlicher Paare: Sie werden nicht als nahe Angehörige eingestuft,
ihre rechtliche Situation ist jedoch – mit den oben angeführten Einschränkungen
– mit der der Ehepartner vergleichbar. Am schlechtesten sind die nicht
eingetragenen Lebenspartner unterschiedlichen Geschlechts gestellt, die die
vermögensrechtlichen Verhältnisse ihres Zusammenlebens im Grunde nur
vertraglich oder testamentarisch regeln können.
Diejenigen Personen, die die vom Staat
festgelegten, gemeinschaftlich geltenden, ideologischen Werte nicht
akzeptieren, beziehungsweise nicht die vom Grundgesetz als ideal angesehene
Lebensform befolgen, können sich nicht als vollwertige Mitglieder der
Gemeinschaft fühlen.
3. Die ewigen Geheimnisse des autoritären
Staates
Es gibt zwar keine Gesellschaft ohne
Korruption, jedoch ist einzig und allein der demokratische Rechtsstaat
imstande, erfolgreich gegen die Korruption vorzugehen, sind doch alle weiteren
bekannten Staaten, die das Recht nicht für das Gemeinwohl, sondern als Mittel
zur Durchsetzung von Gruppeninteressen verwenden, ihrem Wesen nach korrupt.
Die sich im 18. Jahrhundert gegenüber dem Absolutismus positionierende
Aufklärung meinte noch mit der Öffentlichkeit in der Gesellschaft einen
alles heilenden Balsam gefunden zu haben. Auch wenn sich dies als Illusion
erwiesen hat, besteht bis heute kein Zweifel daran, dass in der Gesellschaft
die Öffentlichkeit eines der wichtigsten Hindernisse ist, die der Korruption
und allgemein den egoistischen Interessen der Machtausübenden im Wege stehen.
Die Lage wird dadurch einigermaßen kompliziert, dass es – auch wenn die
Öffentlichkeit die Grundlage der Demokratie ist – im nationalen und
internationalen Recht auch dem Rechtsstaat zusteht, Geheimnisse zu haben. Diese
rechtmäßigen Geheimnisse beziehen sich auf unterschiedliche Gebiete: angefangen
bei der Terrorismusbekämpfung, über die Strafverfolgung bis hin zu einzelnen
wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Die Faustregel im Rechtsstaat ist aber
die transparente Regelung der öffentlichen Angelegenheiten. Und selbst wenn es
auch im Rechtsstaat Geheimnisse geben kann, bildet die Geheimhaltung die
Ausnahme und ist als solche befristet: Es gibt keine ewigen Geheimnisse. Die
Transparenz der Staatsführung ist zwar einer der grundlegendsten auf die
Situation der Staatsbürger einwirkenden Werte, aber lediglich eine politisch
aktive Minderheit unter den Bürgern verfolgt diese Thematik mit Interesse; es
handelt sich um Bürger – „Citoyens“ –, die sich auch sonst gegenüber der
Öffentlichkeit verpflichtet fühlen und sich durch die Bereitschaft auszeichnen,
die Demokratie aktiv mitzugestalten.
Die Dokumentation der Regierungssitzungen –
die Abschaffung der zeitversetzten Veröffentlichung
Die Dokumentation der Regierungssitzung und
ihre zumindest zeitversetzte Veröffentlichung ist eines der wichtigsten
Elemente des Themenkomplexes Geheimhaltung und Veröffentlichung. Die
schriftlichen Protokolle und Tonaufnahmen der Regierungssitzungen sind in einem
Rechtsstaat zur Zeit ihrer Entstehung normalerweise nicht öffentlich
zugänglich, man kann sie aber später im Archiv einsehen und erforschen. In
mehreren Ländern beschäftigt sich die Verfassung selbst mit den Bestimmungen
über den Umgang mit den Protokollen der Regierungssitzungen.
Seit dem Antritt der ersten unabhängigen
ungarischen Regierung (Erstes Ungarisches Ministerium genannt) im April 1848
gibt es eine kontinuierliche Dokumentation der Regierungssitzungen, die Zeit
der rechtsextremen und kommunistischen Diktaturen inbegriffen. Wenn es also eine
Bewandtnis hat, sich heutzutage auf die gegenwärtige Existenz einer
historischen Verfassung zu beziehen – was das NER ja so gerne tut –, dann
können wir behaupten, dass das Festhalten der in den Regierungssitzungen
geäußerten Inhalte Bestandteil dieser historischen Verfassung ist. Über die
Sitzungen der 1990 vereidigten ersten Regierung nach der Wende mussten noch ein
wortwörtliches Protokoll und darüber hinaus eine Zusammenfassung verfertigt
werden. Zwei Jahre später aber wurde die wortwörtliche Protokollierung der
Regierungssitzungen eingestellt. In der Zeit danach gab es diesbezüglich eine
wechselvolle Rechtsprechung. Das Verfassungsgericht hat 2006 festgestellt, dass
die inhaltliche Dokumentation der Regierungssitzungen in einem vom Parlament
verabschiedeten Gesetz hätte geregelt werden müssen. Laut diesem Beschluss sind
die hoheitliche Rechte ausübenden Institutionen verpflichtet, ihre Arbeit
angemessen zu dokumentieren.
Das 2010 neu gewählte Parlament erließ ein
neues Gesetz, das, der früheren Regelung Folge leistend, die Verpflichtung zum
Tonmitschnitt auch weiterhin vorschrieb. Einige Wochen später aber wurde ein
Regierungsbeschluss zur Verfahrensordnung der Amtsführung veröffentlicht, in
der – in Widerspruch zum geltenden Gesetz – keine Verpflichtung zum
Tonmitschnitt gefordert wurde: „Über die Sitzung der Regierung wird eine
Zusammenfassung erstellt; in begründeten Fällen, auf Bitten eines
Regierungsmitglieds und mit Erlaubnis des Ministerpräsidenten sofortig,
ansonsten am Ende der Sitzung, wird eine für die Erstellung der Zusammenfassung
geeignete Tonaufnahme verfertigt.“
Obwohl die Regierung gesetzlich dazu
verpflichtet war, entstand zwischen 2010 und 2018 kein Tonmitschnitt (und
natürlich auch kein wortwörtliches Protokoll) über die Regierungssitzungen. Mit
dem Haushaltsgesetz vom Sommer 2018 hat die Regierung sogar die offizielle
Regelung dieser verfassungs- und gesetzeswidrigen Praxis angepasst.
Anhand einer vom Eötvös Károly Institut
beantragten Offenlegung von Daten öffentlichen Interesses zeigte sich
eindeutig, dass zwischen 2010 und 2018 keine Tonmitschnitte von den
Regierungssitzungen gemacht worden sind. Deshalb erstatteten wir Anzeige wegen
des Verstoßes gegen § 220 Punkt b) Abs. 1 des C. Gesetzes von 2012 des
Bürgerlichen Gesetzbuches – wegen Missbrauchs von Daten öffentlichen
Interesses. Nach der hier angegebenen Gesetzesstelle des Bürgerlichen
Gesetzbuches wird der Tatbestand des Missbrauchs von Daten öffentlichen
Interesses von demjenigen begangen, „der gegen die gesetzlichen Bestimmungen
hinsichtlich der öffentlichen Zugänglichkeit von Daten öffentlichen Interesses
verstößt (…) und Daten öffentlichen Interesses unzugänglich macht“. Die
Zentrale Ermittelnde Oberstaatsanwaltschaft hat unsere Anzeige abgewiesen,
wogegen wir Beschwerde eingelegt haben – die von der Generalstaatsanwaltschaft
ebenfalls abgelehnt wurde. Außer den die Regierungsentscheidungen beinhaltenden
Zusammenfassungen wird für die zukünftigen Generationen keine Spur davon
überliefert sein, worüber in den Regierungssitzungen tatsächlich diskutiert
wird.
Es ist allgemein bekannt, dass in Ungarn
gegenüber den Institutionen ein besonders großes Misstrauen herrscht. Ferner
zeigen Forschungsergebnisse deutlich, dass die Bereitschaft zur Rechtsbefolgung
und das den Institutionen seitens der Gesellschaft entgegengebrachte Vertrauen
eng miteinander zusammenhängen. Unterdessen ist aber die Regierung nicht einmal
gewillt, ihre eigenen Gesetze einzuhalten.
Die jetzige Regierung hat in ihrer
Wahlkampagne die Sittenverderbnis und die Korruptheit des Rechtsstaates
gegeißelt und Ordnung versprochen, um an die Macht zu gelangen. Nun könnte man
aber meinen, sie würde ihre Strategie doch darauf ausrichten, das normative
Chaos innerhalb der Gesellschaft zu vergrößern. Aus ihren Rechtsverletzungen
und Rechtsvorschriften resultieren Unsicherheit generierende, anomische
Verhältnisse. Die Kooperation und die Solidarität unter den Bürgern werden
zerstört, und auch das Vertrauen – das für das Verständnis gegenüber anderen
Personen und den Institutionen unentbehrlich ist – trägt Schaden davon. Die
wichtigsten Entscheidungen werden in geheimen Räumen getroffen und nirgendwo
dokumentiert – worauf Misstrauen und Missachtung der Normen die adäquaten
Antworten der Gesellschaft sind.
Anmerkung:
1) Dieses Schreiben
entstand unter Verwendung der Analysen des Eötvös Károly Instituts.
Deutsche Übersetzung: Lutz Heis